Das Gastspiel der “Rocky Horror Show“ erhielt bei der Premiere in Hamburg tosenden Applaus. Das Musical ist ein absolut harmloser Spaß.

Hamburg. Später am Abend, nachdem bereits reichlich Konfetti, Reis, Klopapier und Spritzpistolenwasser auf das Innere des Schauspielhauses hinabgeregnet war, sagt der Transvestit Frank'n'Furter diesen einen Satz: "Es ist nicht einfach, eine gute Zeit zu haben." Wie wahr. Um sich wirklich zu amüsieren, um sich also markerschütternd bis in tiefste Tiefen zu vergnügen, muss man loslassen können. Loslassen vom Alltag. Loslassen von äußeren Konventionen. Loslassen von inneren Tabus. Diese Art loszulassen, das weiß jeder, ist gefährlich. Denn sie rührt auf. Und es könnte passieren, dass man nach zwei Stunden verwirrt in die Nacht hinausgeht und auch am nächsten Tag noch mindestens ein Fragezeichen an den eigenen Grundsätzen rüttelt.

Die Kinofassung von Richard O'Briens Rocktheater "Rocky Horror Show" ist Mitte der 70er-Jahre dieses Risiko eingegangen. Das frisch vermählte Paar Brad und Janet, ein Sinnbild des Prinzips "Kein Sex vor der Ehe", gelangt nach einer Autopanne auf das Schloss von Frank'n'Furter. Die beiden werden Zeugen, wie der sich nach Frankenstein-Manier einen gut gebauten Gespielen erschafft. Seine Entourage ist eine exzentrische wie verruchte Lustbande, die die zwei Unbescholtenen einem Aufklärungsunterricht der sehr anschaulichen Art unterzieht. Die Strapse sind abgerissen, das Make-up verschmiert, der Kopfputz zersaust. Das Triebhafte, es brodelt und durchbricht all das Verkrustete, Verklemmte. Es gehört nicht viel dazu, in der Story einen subversiv-erotischen Angriff auf die Prüderie der USA zu erkennen.

Brauchen wir heute noch eine solche Geschichte, wo uns doch Halbnacktes täglich von Bildschirmen und Plakatwänden entgegenblitzt? Unbedingt. Denn die durchgestylte Übersexualisierung unserer Tage befördert ja keineswegs, dass der Mensch seinen Körper, seine Bedürfnisse als natürlich erlebt und erforscht. Ein wenig Nachhilfe auf der Bühne hätte also auch im Jahr 2011 nicht schaden können. Doch Regisseur Sam Buntrock hat sich für einen anderen Weg entschieden. Seine "Rocky Horror Show", die am Mittwoch im Hamburger Schauspielhaus unter tosendem Applaus Premiere feierte, ist mehr Show und weniger Schock. Mehr Mitmach-Musical und weniger Rock. Das ist in sich stimmig und macht Spaß. Ist aber, kurz gesagt, sehr safer Sex.

Darsteller Rob Fowler verkörpert noch am ehesten das Lasterhafte, das so gern verdrängt wird. Sein Frank'n'Furter ist ein nocturnes Tier, eine Testosteron-Diva. Prall steckt er in seiner Korsage. Die tätowierte Schulter prangt ebenso frei hervor wie die gepiercte Brust. Die strammen Waden enden in High Heels. Mit starker, dunkler Stimme beschwört er überzeugend die Kreaturen der Nacht herauf. Seine Gäste darf er allerdings nur hinterm Vorhang verführen, was in eine klamaukige Schattenspiel-Turnstunde mündet.

Diverse Fans im Publikum hatten es diesem Meister des Abgründigen gleichgetan und sich in Pin-up- und Fetisch-Mode gewandet. Kesse Hüte und knappe Hosen, aufgebürstetes Haar und weiß geschminkte Haut. Da konnte vor Beginn schon mal ein Herr in Strapse auf der Damentoilette auftauchen, um seine Wasserpistole aufzuladen.

Am Eingang ließ sich eine Tasche erwerben, die Schnickschnack zur Selbstbeteiligung bereithielt: Rasseln, Knicklichter, Spielkarten. Eine Idee jener Programmkinos, die den Film mit all seinen Kultsongs seit Jahren zeigen. Und auch an der Kirchenallee ging das Konzept auf. Bei der Nummer "There's A Light", wenn Brad und Janet durch den Regen irren, wurde es sehr schnell sehr nass von oben, und die Menge verbarg ihre Köpfe kichernd unter Zeitungen. Die eingeschworenen Anhänger wussten auch, wie mit dem Erzähler umzugehen ist. Sky du Mont, der unter großem Jubel die Bühne betrat, gab gekonnt den Oberlehrer, wurde dafür aber mit "Langweilig"-Rufen abgestraft. Alles Teil des Rituals. Genau wie die Hit-Choreografie zum "Time Warp" mit dem legendären Sprung nach links. Da waren die Zuschauer flott auf den Beinen. Und wer da "Hinsetzen!" schrie, war definitiv im falschen Film.

Apropos Film: Ein gelungener Kniff war es, die Show in ein B-Movie-Setting einzubetten - mit Vorfilmen wie "Tarantula", die an die ramponierte Ästhetik billiger Filmproduktionen erinnerten. Diesen Charme suchte man in der Inszenierung selbst vergeblich. Die Kostüme, vor allem beim Finale, sahen nicht aus wie aus dem Lotterbett, sondern eher wie Christbaumschmuck vor Körperteilen. Lasziv geht anders.

Sam Cassidy als Rocky, allgemeines Objekt der Begierde, brachte noch ein wenig knisterndes Potenzial mit. Ganz im Gegensatz zu Brad, ursprünglich die lustigste Figur, die die größte Wandlung durchläuft. Jon Hawkins sang den Biedermann nicht nur schwach, sondern blieb auch sonst recht blass.

Obwohl Frank'n'Furter seinen befreienden Leitspruch "Don't dream it, be it" gen Ende formschön vortrug, umtanzt von einem Federballett, bleibt das Fazit: Bei dieser Show hat niemand vom Baum der Erkenntnis gekostet. Eher vom Strauch des Spektakels.