“Tannhäuser“-Premiere in Bayreuth: Buhrufe für die Inszenierung, Applaus für den zukünftigen NDR-Chefdirigenten Thomas Hengelbrock

Bayreuth. So, jetzt mal schön langsam, zum Mitwundern: Der Venusberg steckt als unter-bewusster Rotlicht-Kellerzoo im Fabrikboden einer Biogasanlage namens Wartburg. In diesem Käfig hausen neben Venus - geschwängert vom Untermieter übrigens - ein Rudel Steinzeitmenschen, wilde Tiere und Kaulquappen mit Beinen. Und in dieser IG Wartburg destilliert sich der sehr sektiert wirkende Mensch in einem riesigen Alkoholator zurecht, was er so als Rausch-Treibstoff braucht, aus allem, was er so hinterlässt. Er wird also nur von sich selbst besoffen.

Mal ist es irgendwie die Kunst, die den Menschen hier antreibt, mal die Arbeit, die ihn an die Rübenzerkleinerungswerkbänke ruft. Zwischendurch wird eindringlich um die Wette gesungen, kräftig der Humpen Selbstgebranntes geleert oder zum kollektiven Einnorden zum Papst nach Rom gepilgert. Man weiß es bald nicht mehr so genau, der Überblick ist futsch, während Marienbildchen, Zellteilungen oder Schlaumeier-Sentenzen die Videowände beflimmern. Aber am Ende ist nach Elisabeth, die von Tannhäuser ganz gegen ihren Willen und das Libretto in die Biogasanlage verklappt wurde, auch der Titel-Minnesänger verblichen. Venus präsentiert der Belegschaft stolz ihren neugeborenen Sohn, während im Hintergrund das Wagner-Zitat "Ich bin der Welt noch einen Tannhäuser schuldig" die Schlusspointe mit den überhöhenden Weihen des Über-Meisters absegnen möge. Uff. Geschafft.

So in etwa dürfte das wohl gemeint gewesen sein. Doch nach Abenden wie der Bayreuther "Tannhäuser"- Premiere, mit der die 100. Bayreuther Festspiele durchwachsen eröffnet wurden, kann man sich eine garstige Frage nicht verkneifen. Ob es wirklich gut ist, wenn theorienberauschte Dramaturgen zu viel nachdenken und Berge von Sekundärliteratur und Referenzzitaten in einem einzigen, wehrlosen Bühnenbild verstauen wollen, bis dem Betrachter das überhitzte Hirn trudelt.

Der herzensgute Haus-Geist Christoph Schlingensief, dessen "Parsifal"-Inszenierung Deutungsgeschichte umschrieb, mag dem Regisseur und Bayreuth-Debütanten Sebastian Baumgarten bei seiner Vorbereitung allzu übermächtig präsent gewesen sein. Baumgartens Dramaturg Carl Hegemann hat an der Volksbühne gelernt, von der nun wohl Frank Castorf als Heilsbringer für den Jubiläums-"Ring" 2013 erscheinen soll, und mit Schlingensief hat er auch gearbeitet. Dieser Weg, ganz klar, ist das hehre Ziel im Hause Wagner & Wagner-Pasquier. Verfehlt wurde beides.

Zweiter Neuling im Bunde war der holländische Künstler Joep van Lieshout, der die Thesen- und Destillator-Tanks auf die Bühne montierte. Angereichert wurde dessen Daniel-Düsentrieb-Tableau durch 50 handverlesene echte Besucher, die starr vor Ehrfurcht am Rand des Geschehens im Zentrum des Allerheiligsten sitzen durften.

Selbst die zwei Pausen wurden genutzt, um - weitgehend unbeachtet vom Publikum, das sich lieber den guten fränkischen Bratwürsten oder der gegenseitigen Garderobe-Begutachtung widmete - Schau zu machen: Video-Einspielungen von einem Berliner Wagner-Konzil im Frühjahr wurden ins Off versendet, und nach dem zweiten Akt folgte eine Messe für die Rom-Pilger, bei der möglicherweise auch Lied-Texte der Pathosrocker Rammstein zum Einsatz kamen, die Baumgarten im Vorfeld gern erwähnt hatte, um en passant ein weiteres von zu vielen Bedeutungs-Fässern aufzumachen. Auf jeden Fall aber wurde die Melodie der Nationalhymne gesungen. Angela Merkel, als Kanzlerin und Wagner-Freundin doppelt vom Fach, hätte das bestimmt interessiert. Doch auch sie verbrachte die Pause natürlich nicht in ihrer Loge. Vergebliche Erhellungsmüh also auch das.

Viel apodiktisch-dialektisch aufgebrezeltes Diskurs-Gestelze um zu wenig tiefere Erkenntnis also? Kann man so auch nicht sagen, denn es gibt auch Positives und Bewegendes von dieser verworrenen Irrfahrt um die Wartburg zu berichten. Dafür sorgte die Musik.

Denn der Pluspunkt des Abends hieß Thomas Hengelbrock. Der neue NDR-Chefdirigent erfüllte die Hoffnungen, die man hier in ihn gesetzt hatte: Sein Alte-Musik-Stammbaum immunisierte ihn gegen die Verführung, im Bayreuther Graben den ganz großen, satt getränkten Klangfarben-Pinsel zu schwingen und auf Maestro altbewährter Schule zu machen. Hengelbrock erfand das Rad dabei nicht neu, er drehte es allerdings sehr elegant und aufgeklärt, mit einer mitunter noch zu dezent dosierten Dynamik, die trotz der heiklen Entfernungen stets ganz dicht und ungemein dramatisch bei den Sängern war. Mit Liebe zu den Details und dem Wissen um ihre Wirkung. So spannend, so einfühlsam und stringent, als handele es sich um eine überschaubar besetzte Kammeroper.

Derart gehegt und gepflegt, konnte Camilla Nylunds Elisabeth sich aufs Angenehmste präsentieren, mit einer klar leuchtenden Stimme, die vom Orchester subtil getragen und umschmeichelt wurde. Lars Cleveman hatte als Tannhäuser über weite Strecken mit sich selbst zu kämpfen, seine Leistung schwankte zwischen Schwächeln und Forcieren. Michael Nagy nutzte vor allem seinen großen Auftritt mit Wolframs Lied an den Abendstern, Günther Groissbröcks Landgraf war so markig und prägnant, dass hier kein Wunsch übrig blieb. Bravourös seinem Ruf gerecht wurde der Festspiel-Chor, der auf jeder Position seine Ausnahmeklasse unter Beweis stellte, ohne szenisch ernsthaft gefordert zu sein.

Am Ende setzte es wütende Buhrufe für das Inszenierungsteam und die unschön überforderte Stephanie Friede, deren Venus eine glatte Fehlbuchung war. Der Beifall für Hengelbrock dagegen wurde nur leicht von Missmutigen getrübt. Ein Grundsteinchen für eine interessante Erneuerung aus dem Geiste der Geschichte heraus scheint hier gelegt. Ach ja, eine Randbeobachtung fehlt noch: Als der zweite Akt begonnen hatte, stand auf den Video-Leinwänden: "Wir denken nach." Das war kein Insider-Witzchen, über das Dramaturgen sich beim Kantinenbier amüsieren. In dieser "Tannhäuser"-Inszenierung war es eine Drohung, für Bayreuths Zukunft ist es die größte Herausforderung.