In seinem neuen Roman Muttersohn erzählt Martin Walser eine moderne Glaubensgeschichte

Die unbefleckte Mutter ist der Traum so manchen Mannes, der sich nicht vorstellen will, was nötig war zu seiner Zeugung. So einer ist Percy, ein Schönling und glänzender Redner, ordinär aber Pfleger in der Psychiatrie und Muttersöhnchen. Die hat ihn 1977 zur Welt gebracht, und neun Monate davor sei kein Mann daran beteiligt gewesen. Das versichert Mutter Fini dem Sohn. Der vaterlos Gezeugte, der, als solcher bekannt geworden, in Talkshows herumgereicht wird, muss dort hören: "Dass Sie mit Nazareth konkurrieren, ist Ihnen bewusst?" Er hat nichts dagegen, ein Jesus unserer Epoche zu sein.

Was für eine raffinierte Romanidee von Martin Walser, 84, dem Büchner- und Friedenspreisträger, dem Autor Dutzender Bücher, der eine große Lesergemeinde hat. Ein Alterswerk, es geht um letzte Fragen. Schon länger treibt Walser das Thema um.

Eine Fundquelle war die Jesus-Biografie von Papst Benedikt XVI.. Walser glaubt, dass "die Glaubensfrage" das "schärfste Beispiel" für die Wundergläubigkeit des Menschen sei, hauptsächlich des Zeitgenossen christlichen Glaubens. Denn wenn man an die unbefleckte Empfängnis glaube, "kann man an alles glauben".

Percy hat keinen Vater, da bleibt ein Vakuum. In seinem Innersten sucht er nach einem Ersatzvater, mit dem er reden, an dem er sich messen kann. Da kommt ihm Ewald Kainz gerade recht in die Psychiatrie in Scherblingen, weiß er doch, dass dieser Mann die große Liebe seiner Mutter war. 1973 hat sie ihn auf einer Demo gegen den Radikalenerlass in Stuttgart kennengelernt, er hielt eine flammende Rede, sie hielt zitternd das Mikrofon.

Von dem Tag an schrieb sie ihm viele Liebesbriefe, hat aber keinen abgeschickt. Nur der kleine Percy musste das Vorlesen der Gefühlsergüsse immer wieder über sich ergehen lassen. Er kann ganze Passagen auswendig aufsagen. Nun rezitiert er sie vor dem Mann im Bett, der eingeliefert wurde, weil er als selbstmordgefährdet gilt, nachdem er eine lange vergeblich Geliebte mit Cognac übergoss und anzündete. Doch nun ist er alt, verdüstert und will nicht mehr reden.

Ein Flop für Percy, so wie zuvor schon Hugo Schwillk, der größte deutsche Arno-Schmidt-Fan, der im Alltag ständig aus den Werken seines verehrten Meisters zitierte und sein Leben an dessen Büchern orientierte. Fini, Percys Mutter, hat ihn angehimmelt, auch angeschrieben und die Briefe abgesandt, und der hat geantwortet und Fini sogar geheiratet. Leider war er alkoholkrank, gewalttätig und schwul, die Ehe war eine Tragödie, es hatten sich eben nur die "Briefe ineinander verliebt".

Martin Walser kennt sich aus bei seltsamen Paarbeziehungen, doch diesmal will er das nicht anhand der gesellschaftlichen Entwicklung deuten. "Der gesellschaftliche Anteil ist im Vergleich zu meinen früheren Büchern gleich null", erklärte er. "Es war für mich eine reine Freude, dieser Figur auf dem Papier zu folgen. Nach so viel Gesellschaftsdienst, den ich hinter mir habe, ist das eine Erlösung." Als Walser gefragt wird, wie viel von ihm selbst im neuen Roman stecke, sagt er: "Alles, ganz und gar", und erzählt von seiner "angstbesetzten Mutter", deren Lebensangst sich auf ihn übertragen habe, weshalb er zur Literatur gelangt sei. Dieser Schritt zeigte ihm, halleluja, den Weg zur Rettung.

Walser will nicht mehr über das Anstrengende des individuellen Lebens im Besonderen und der Beziehungsformen im Allgemeinen schreiben, er will fröhlich sein, glücklich und am Ende seiner Sehnsüchte. Er habe "alle Helligkeit in diese Figur" aufgenommen, "die ich bisher in anderen Geschichten nie habe unterbringen können". Der Dichter vom Bodensee, der sich so ins Allzumenschliche verbissen hatte, stößt nun das Tor zu einer farbigen Welt auf, zur Erleuchtung im Diesseits. Walser ist auf seine alten Tage spirituell geworden, womöglich wird man ihn bald bei einer Friedensmeditation von Ravi Shankar sehen, und vielleicht wird er auch über dessen esoterische Lebenskunstlehre schreiben. Alles ist möglich, seitdem Walser nicht mehr in der Dumpfwelt seiner bisherigen spießbürgerlichen Figuren verharren will. Walser hat jetzt eine frohe Botschaft.

Doch worin besteht sie? Das bleibt diffus. Sein Percy ist ein "Engel ohne Flügel", seine Mutter sagt zu ihm "Du bist geleitet". Das glaubt auch Augustin Feinlein, einst Chef des Psychiatrischen Landeskrankenhauses, den kennen wir aus der vorherigen Walser-Novelle "Mein Jenseits", die noch einmal aufgegriffen wird. Feinlein hatte fast ein halbes Leben an die Liebe einer Frau geglaubt, die keine Liebe war, war darüber irre geworden und ist nun selbst Patient im Krankenhaus.

Und Percy ist sein Pfleger, ein Mensch mit totalem Ja zum Leben. Es tut gut im Alter, einem Vollkommenen zu begegnen, der sich auch kümmert. "Glauben heißt, die Welt so schön machen, wie sie nicht ist", lautet ein Satz im Roman. Der Schlüsselsatz? Martin Walsers Placebo? Die Erlösung?

Martin Walser: "Muttersohn". Rowohlt, 500 S., 24,95 Euro

Martin Walser liest am 26. August aus seinem Roman im Literaturhaus, Schwanenwik 38, 20 Uhr