Aus dem Nachlass Henry Roths erscheint “Ein Amerikaner“, ein weiterer Teil der literarischen Autobiografie des großen Erzählers aus Übersee

Der amerikanische Schriftsteller Henry Roth (1906-1995) steht für überbordende Schaffenskraft und für eine kaum zu bezwingende Schreibblockade. Allein diese Tatsache nimmt viele Leser für ihn ein. Dabei bezeichnet das Wort Schreibblockade seinen Zustand nicht genau. Denn geschrieben hat der Autor so gut wie immer, wenngleich nicht im Fluss und nicht zu seiner Zufriedenheit. Erscheint ein Buch von ihm, ist immer, wie auch an dieser Stelle, von der wundersamen Zeitspanne von 60 Jahren zwischen seiner ersten und zweiten Roman-Veröffentlichung die Rede. Roth trat erst kurz vor seinem Tod wieder literarisch in Erscheinung: mit dem 1994 publizierten Roman "Die Gnade eines wilden Stroms".

Sein hochgelobter Erstling, "Nenne es Schlaf", in dem der kleine Junge David, ein Kind jüdischer Einwanderer aus Galizien, mit seinen Erfahrungen und Nöten im Mittelpunkt steht, war 1934 erschienen. Bisher hatte man kaum eine Geschichte aus diesem Milieu gelesen. Die meisten amerikanischen Autoren, die sich mit den Fährnissen jüdischen Lebens in den USA auseinandersetzten, um nur John Updike und Philip Roth zu erwähnen, schrieben ihre Bücher erst später. Roth war ein Wegbereiter, doch dann schwieg er jahrzehntelang. "Die Gnade eines wilden Stroms" eröffnete eine monumentale Romantetralogie, die zwischen 1994 und 1998 erschien.

Als Roth 1995 starb, war der zweite Band gerade herausgekommen, zwei weitere hatte er schon bearbeitet. Sie erschienen posthum. Auch diese Bücher ernteten überwiegend hymnische Kritiken, wenngleich es stets auch Stimmen gab, die seine Schreibkunst ein wenig tiefer als auf der Höhe eines großen Erzählers einstuften.

Und nun also ein weiterer Band posthum: "Ein Amerikaner". Der Roman stammt aus dem legendären "Stapel 2", der sich im Nachlass des Dichters fand. Aus dem ersten Stapel hatte Henry Roth die vier Bände bestückt. Des zweiten nahm sich Willing Davidson an, Literaturredakteur der "New York Times". Er hat gute Arbeit geleistet, die vor allem im Ordnen und Kürzen bestand. Es geht, wie sollte es anders sein, wieder um das Alter Ego, das seit dem letzten Romanzyklus Ira heißt.

Das Buch schließt zeitlich an den letzten veröffentlichten Roman an und behandelt die Jahre von 1938 bis kurz vor Roths Tod. Es vermittelt, wie alle anderen Bücher, wie sehr Ira - nach wie vor - damit beschäftigt ist, seine Vergangenheit, seine Herkunft loszuwerden. Einfach Amerikaner sein, das wär's doch: selbstbewusst, lässig. Selbst die Armen unter ihnen scheinen es besser zu haben als er, der gequälte unstabile Mensch, den die Bürde seiner Herkunft - jüdisch, kleinbürgerlich und arm - niederdrückt.

Am Anfang, 1938, lernt Ira (wie Roth) seine spätere Frau Muriel kennen, die er im Buch "M" nennt. Nun muss er sich von seiner bisherigen Lebenspartnerin Edith trennen, welche die Leser seiner vorhergehenden Romane bereits kennen. Im Gegensatz zu ihm glaubte sie an sein Talent.

Die Trennung zu vollziehen fällt ihm so schwer wie alles, was eine Entscheidung, was Rückgrat erfordert. Sein lethargisches Naturell, seine ständigen Selbstzweifel lähmen ihn. Schonungslos bis zur Schmergrenze gibt er sich preis, übersieht nicht den kleinsten negativen Charakterzug, was großen Eindruck macht. Das Liebenswerte an ihm bleibt im Verborgenen, und doch ist es zu spüren. Auf dem Weg zu der Frau, um die er warb, macht er einen großen Umweg, der geradezu biblisch anmutet. Als müsse er etwas erbringen, um sie zu bekommen.

Zwar sind es nicht zwei mal sieben Jahre, wie bei Jakob, der um Rachel freite, und es war auch kein gerissener Schwiegervater, der das verlangte. Ira braucht ein halbes Jahr. Seine Furcht: Bliebe er in New York, würde er die Ablösung von Edith nicht schaffen. So begibt er sich auf eine nicht vielversprechende Reise mit wenig Geld in Richtung Los Angeles. Sie vermittelt ein eindringliches Bild von Land und Leuten, den kleinen Leuten, denn um die geht es. Solche, die auf staatliche Zuschüsse angewiesen sind, die in Behelfsheimen leben, sympathische und Kotzbrocken. Der Verführung einer reizvollen Frau kann Ira sich trotz bester Absichten nicht erwehren.

Doch im Gegensatz zu den früheren Büchern spielt der Geschlechtstrieb hier keine große Rolle - es geht um die (romantische?) Liebe. Die Rückreise dann als schwarzfahrender Passagier im Güterzug: Abenteuer pur und reine Verzweiflung. Das alles erzählt der scharf Beobachtende konventionell ohne sprachliche Experimente. Zurück in New York leuchtet die Verheißung eines Lebens mit der geliebten Frau.