Bei den Ballett-Tagen gastiert das Chinesische Nationalballett - eine Compagnie mit bewegter Geschichte und hohen Ansprüchen.

Hamburg. Feng Ying ist eine gertenschlanke Frau von zurückhaltender, durchaus selbstbewusster Eleganz. Die Ballettchefin, 48 Jahre alt, gehört zu einer Generation, die ihre Karriere im Wesentlichen nach der Kulturrevolution gemacht hat.

Sie tanzte selbst ab 1980 im Chinesischen Nationalballett, wurde danach Ballettmeisterin, bevor sie 2009 dessen Leitung übernahm. Madame Feng, wie ihr Assistent sie nennt, wenn er übersetzt, hat auch einige Zeit in Paris studiert, ist weltgewandt aus der Vorbereitung von Gastspielen und der Arbeit mit internationalen Choreografen; sie antwortet präzise, ihre Begeisterung blüht auf, wenn es ums Tanzen und das Gastspiel bei den Hamburger Ballett-Tagen geht. Über Erschütterungen früherer Zeiten redet sie am liebsten gar nicht.

Feng Yings direkte Vorgängerin Zhao Ruheng hatte Chinas neuere Tanzgeschichte fast noch von Anfang an miterlebt: als Schülerin 1954, als die Ballettschule in Peking gegründet wurde - fünf Jahre, nachdem Maos Kommunisten die Macht erobert hatten. Führende Kader, von denen etliche im Westen studiert hatten, wollten die Tanzkunst in China verankern. Mit Hilfe russischer Choreografen wurden Tänzer ausgebildet. Fünf Jahre später taumelte China in die Hungersnot, die Maos "Großer Sprung nach vorn" auslöste und die mindestens 15 Millionen Menschen das Leben kostete.

Im selben Jahr wurde aus Schülern der Ballettschule das Nationalballett gegründet und trat zum ersten Mal auf. Ein Nebeneinander, das im Westen verwundert, in China nicht. "In diesem Moment der Geschichte waren die Dinge, wie sie waren", sagt Feng Ying. Schon damals waren die Linien sichtbar, die das Ballett bis heute verfolgt: Es hat westliche Klassiker einstudiert und gleichzeitig Formen gesucht, bei denen sich die westliche mit der chinesischen Kultur mischt.

Bald aber waren für das Nationalballett "Schwanensee" und ähnliches tabu. Mao entfesselte 1966 die Kulturrevolution, das Tanztraining ging weiter, doch vor den Augen der Politkader fanden nur noch zwei Ballette Gnade, unter ihnen "Das rote Frauenbataillon" von 1964, wo fesche Soldatinnen der Roten Armee mit Fahnen und Waffen auf Spitze die Partei preisen. Es blieb immer auf dem Spielplan, gilt heute als Klassiker und findet in Chinas wachsender Mao-Nostalgie ein begeistertes Publikum. Für die Jüngeren ist die Kulturrevolution nur ein fast verblasster Albtraum. "Jede Generation muss ihren eigenen Zugang zu diesen Geschichten finden. Für unsere jungen Tänzer ist 'Das rote Frauenbataillon' eben ein Kunstwerk, die Geschichte eines jungen Mädchens", sagt sie.

Das Ballett steckte damals in Mao-Anzügen und reiste durch die Provinz - Ochsentouren, man tanzte auch mal auf steinigem Boden und schmutzigen Plätzen, wie sich Zhao Ruheng 2008 in einem britischen Interview erinnerte, weil es ihre Tanzkarriere durch eine Verletzung beendete. Aber damals lernten viele Chinesen draußen im Land, dass es überhaupt so etwas wie Ballett gibt - was bis heute Zinsen trägt. Immer dabei: das kleine rote Buch und am Ende der Vorstellungen ein Lied für Mao. Am Theater habe es politische Denunziationen gegeben. Ein Dirigent des Ballettorchesters, erzählte Zhao Ruheng, habe sich deswegen erhängt.

Tempi passati. Was mit 50, 60 Tanzeleven anfing, ist heute eine Ballettschule mit 1000 Studenten. Aus ganz China werden Bewerber von so stolzen wie ehrgeizigen Eltern zu den Auditions begleitet. "Der chinesische Körperbau ist nicht eben ideal fürs Ballett. Aber wir haben eine riesige Auswahl und große Disziplin", freut sich Feng Ying.

Unabhängig von der Schule existiert Chinas Top-Compagnie mit 74 Profitänzern. Seit den 80er-Jahren hat man sich ausländischen Choreografen geöffnet, hat Stilelemente aus Italien, England, Frankreich, Amerika und Deutschland adaptiert. Heute hat Feng Ying in einem System, in dem Geld fast alles bedeutet, auch neue Aufgaben: Die große Unterstützung der Zentralregierung muss sie durch das Einwerben privater Sponsorengelder aufstocken, wenn sich das Ballett entwickeln soll. Denn China will mehr als nur westliche Klassiker. Deshalb sind "Nussknacker", "Le Sacre du Printemps" oder "Schwanensee" im Repertoire, aber auch "Rote Laterne", "Gelber Fluss", "Das Neujahrsopfer" - Fusionen aus vielen Tanzwelten. "Das Fremde für China nutzbar machen", heißt die prägnante Formel.

Das Ballett "Rote Laterne" führt das vor. Die Inszenierung stammt vom gefeierten Filmregisseur Zhang Yimou. Sein gleichnamiger Film gewann 1991 in Venedig einen Silbernen Löwen, den er damals nicht abholen durfte, weil die Parallelen zwischen seiner Kritik am vorrevolutionären Feudalsystem und der kommunistischen Herrschaft kaum zu übersehen waren. Der Film wurde in China erstmal nicht gezeigt. Doch Zeiten ändern sich, Menschen auch. Zhang Yimou durfte sogar die Eröffnungsfeier für Olympia 2008 inszenieren. Für das Ballett, sagt Feng Ying, wurde die Geschichte 2001 aus tanzdramaturgischen Gründen vereinfacht. Und, wie Kritiker meinen, entpolitisiert.

Das Drama der jungen Frau, die als vierte Nebenfrau einen reichen Mann heiraten muss und zerbricht beim Versuch, in seiner Familie einen Platz zu erobern, sei jetzt zeitlos schön. Zhang Yimou ist für die anrührende Story, die farbenprächtige Bühnen und das Lichtkonzept verantwortlich, er arbeitete eng mit den Choreografen und dem Komponisten zusammen.

Integriert sind bei dieser Aufführung chinesische Musik, traditionelle Instrumente, chinesische Kostüme und Kampfkunst. Dem neu erwachten Nationalbewusstsein zu Hause schmeichelt das ebenso, wie es dem Nationalballett international Erfolg garantiert beim Versuch, eine tragfähige Balance zu finden zwischen Tradition und Moderne, West und Ost, aber auch zwischen Kunst und Markt. Man darf gespannt sein darauf, wo die Compagnie auf dieser Reise inzwischen angekommen ist.

Rote Laterne 5. und 6. Juli, 19.30, Staatsoper (Dammtorstr. 28, U Gänsemarkt). Eintritt: 4.- bis 79.-; Infos unter www.hamburgballett.de