Die Hamburger Symphoniker spielen Mahler an ungewöhnlichen Orten

Hamburg. Mahlermüde? Man dürfte es sein in Hamburg, zumindest etwas - nach all den Sinfonien, Liederabenden, Vorträgen, Symposien und Ballett-Soireen, die anlässlich des 150. Geburtstags und des 100. Todestages von Gustav Mahler in den Jahren 2010/11 das Hamburger Kulturleben prägen. Doch noch ist das Mahlerdoppeljahr nicht vorbei, und des Komponisten und Kapellmeisters "Lied von der Erde", um das eine sommerliche, sehr kompakte Konzertreihe der Hamburger Symphoniker kreist, bildet eher das gedankliche Zentralmotiv für andere, viel weiter reichende Ideen ihres Intendanten Daniel Kühnel. Noch ein Mahler-Gedenken mehr, das ist nicht sein Plan.

"Verwandlungen" heißt die neue Sommermusik der Hamburger Symphoniker. Sie tritt an die Stelle des recht schmählich nach 55 Jahren beendeten Engagements des städtischen Orchesters bei den Eutiner Festspielen. Die dadurch frei gewordenen Kapazitäten möchte Kühnel nutzen, um in Hamburg schöpferisches Nachdenken über die Rolle und Selbstwahrnehmung einer künftigen Musikstadt anzuregen.

Der in Israel geborene und aufgewachsene Musikmanager, dessen hohe Formulierungskunst im Deutschen ihm allenfalls bei der korrekten Zuordnung der Artikel manchmal ein Schnippchen schlägt, bietet den Hamburgern zwischen dem 18. und 24. Juli "Sechs Lieder und mehr an sechs verschiedenen Orten in Hamburg". Die Stadt soll ihr Orchester aus doppelt ungewöhnlicher Perspektive erleben: als Kammermusikvereinigung, eng verbunden mit der Vokalmusik des 20. Jahrhunderts, und als konzeptionell denkender und agierender Klangkunstverein, der sechs spezifische, probenintensive Programme an sechs besonderen Orten inszeniert und dabei keineswegs nur en passant Mahlers "Lied von der Erde" wie Licht durch ein Prisma schickt, auf dass wir seiner Einzelteile ansichtig werden.

Mahler komponierte das "Lied von der Erde" auf die deutsche Übersetzung einer Übertragung ins Französische von chinesischen Gedichten aus dem 8. Jahrhundert. Die Uraufführung erlebte er nicht mehr. Die Symphoniker spielen das Werk in Arnold Schönbergs Fassung für Kammerorchester, als Ganzes allerdings erst im letzten Konzert in der Laeiszhalle. An den fünf vorangehenden, jeweils rund einstündigen Abenden erklingt nur je ein Lied aus dem Zyklus, und sein Titel gibt nicht nur dem restlichen Programm des Abends sein Gepräge. Er hat auch maßgeblich den jeweiligen Aufführungsort bestimmt.

Doppelte Rekontextualisierung also. Das "Trinklied vom Jammer der Erde" sollte eigentlich im Rathaus aufgeführt werden, dessen Innenhof die Symphoniker seit Jahrzehnten getreulich bespielen (siehe Bericht links). Aber da waren die Regularien der Freien und Hansestadt vor. Stattdessen findet das Eröffnungskonzert im Haus der Patriotischen Gesellschaft statt, das auf dem Platz des bei dem Brand 1842 zerstörten alten Rathauses steht. Immerhin beherbergte es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bürgerschaft der Stadt. Als angemessener Aufführungsort für das zweite Lied "Der Einsame im Herbst" erschien den Symphonikern die Gedenkstätte Neuengamme. Kühnel spricht von der "Morgenlosigkeit" als konstante Empfindung vieler KZ-Häftlinge und lässt in Neuengamme neben dem Mahler-Lied auch die "Metamorphosen" von Richard Strauss und von Benjamin Britten aufführen.

Auf dem Friedhof Ohlsdorf soll "Von der Jugend" erklingen, in der Kunsthalle "Von der Schönheit", und "Der Trunkene im Frühling" darf in der Kantine der Holsten-Brauerei sein Lied anstimmen. Allen Konzerten ist neben den Mahler-Bruchstücken und sorgfältig zusammengestellten Werken der Kammermusik ein weiterer roter Faden beigewebt: Lieder von Hugo Wolf nach Texten von Goethe.

Die Leitung der Abende hat Marius Stieghorst, Assistent von Philippe Jordan an der Opéra National de Paris. Als Sänger beteiligten sich Iris Vermillion, Jorma Sivasti (Tenor) und Paul Armin Edelmann (Bariton) an Kühnels Mahler-Vision. Die geht so weit, dass der Intendant träumt, wer sie an jenen Orten gehört habe, werde die Musik nie wieder von dieser Erinnerung lösen wollen.