Hamburg-Ballett-Chef John Neumeiers bejubelte Uraufführung seines Mahler-Balletts “Purgatorio“ eröffnet die 37. Hamburger Ballett-Tage.

Hamburg. Der Komponist Gustav Mahler ist ein Choreograf. Er schreibt mit den Körpern seiner Tänzer Partituren aus Bewegung in den schwarz ausgeschlagenen Bühnenraum. Von einer Vierergruppe junger Tänzer bedrängt und bestürmt, durchlebt der Künstler das Fegefeuer von Schaffenskrisen zum dritten, "Purgatorio" überschriebenen Satz von Mahlers zehnter Sinfonie.

"Purgatorio" ist der Titel des neuen Balletts von John Neumeier, Chef des Hamburg Balletts, mit dem er Sonntagabend die 37. Hamburger Ballett-Tage eröffnete. Und mit dem ihm und seinem Protagonisten Lloyd Riggins (Gustav Mahler) selten intensive und zu Herzen gehende Studien einer zerrissenen Künstlerseele gelungen sind. Diese Meisterleistung wurde denn auch am Schluss vom Premierenpublikum mit lautstarken Ovationen honoriert.

Der Konflikt des Künstlers zwischen Liebe und Arbeit, zwischen seiner Schöpfung und dem Leben gehört zu den zentralen Themen in Neumeiers Balletten. Die (auch für ihn) unlösbare Problematik verfolgt ihn, und er verfolgt sie, indem er sich ihr unerschrocken und immer wieder neu stellt, gemeinsam mit von ihm verehrten Leidensgenossen. Nach "Nijinsky", "Tod in Venedig" und "Orpheus" lässt er diesen einen, diesen zentralen Konflikt erneut mit einer Dringlichkeit und Intensität aufleben, die im szenischen Kontrast zu den traumartig ruhig dahingleitenden Bühnenbildern die Tiefen einer großen Verzweiflung erreichen.

An den Skizzen zur Partitur der Zehnten arbeitete Mahler in der schweren Liebes- und Lebenskrise des Sommers 1910. Deshalb sei die Musik für ihn nicht von Mahlers Person und Lebenssituation zu trennen, erklärte Neumeier seine Abwendung von der bisher eher sinfonisch "abstrakten" Interpretation von Mahler-Sinfonien hin zu einer sich biografisch annähenden Choreografie.

Der Musiker, abgekapselt in seinem Komponierhäuschen, wird durch die Affäre seiner Frau Alma mit dem jungen Architekten Walter Gropius aus dem Käfiggerüst des vergeistigten Asketen jäh ins Leben gerissen. Die fatale Dreiecksgeschichte bestimmt den ersten Teil des Balletts zu neun Orchesterliedern von Alma Schindler-Mahler. Die Szenen im Kurort Tobelbad, wo sich die Liebenden begegnen, hat Neumeier wohl auch als Hommage oder als Rehabilitation der verhinderten Musikerin gewidmet. Denn Mahler hat Alma zu Beginn ihrer Ehe in einem Brief das Komponieren verboten. Die Sopranistin Charlotte Margiono verleiht den Liedern einen spontan klaren Gefühlsausdruck ohne Sentimentalität.

Das nebelverhangene Seepanorama auf der von Neumeier entworfenen Bühne deutet die dunklen Wolken in den Szenen einer Ehe an. Haltung bewahren der Intellektuelle und seine junge Frau, mit Caprice und einer sinnlichen Eleganz getanzt von Hélène Bouchet. Sie begegnet in Thiago Bordins attraktivem und erotisch provozierenden Gropius einem kaum zu widerstehenden Mann. Schritt für Schritt durchbricht die Leidenschaft gesellschaftliche Bewegungskonventionen, in Drehungen, Sprüngen und Umarmungen schafft sie sich freie Bahn - was das Publikum an diesem Abend in der Staatsoper zu sehen bekommt, ist feinstes Ballett-Theater.

In den spannungsvollen Trios mit dem betrogenen Gatten verschlingen sich ihre Körper jugendstilartig pflanzenhaft und lassen die unglückselige Verkettung der Emotionen und Widersprüche zwischen Sexualität und Sitte, Begehren und Vernunft plastisch und tänzerisch perfekt Bild werden.

Im zweiten "Purgatorio"-Teil führt Neumeier dem Zuschauer durch Tanz das Entstehen einer Partitur vor Augen - und zugleich den Entwicklungsprozess jeder Choreografie. Für Lloyd Riggins als Gustav Mahler nimmt die Inspiration Gestalt an in Alexandre Riabkos schwerelos leichtfüßig getanztem Schöpfergeist. Erinnerungen an vergangene Glücksjahre setzt der Musiker-Choreograf in unbeschwerte Duos (grandios: Anna Laudere und Edvin Revazov) um. Und das exzellente Ensemble schießt in Trainingskleidern durch den Raum, um das Werk des Komponisten zu vervollkommnen.

Erlösung aus seiner Künstler-Passion bringt Mahler das Finale von Deryck Cookes Konzertfassung des Sinfonie-Fragments, die Simone Young und das Philharmonische Orchester dynamisch interpretieren. Neumeier kann allerdings seinen Freud nicht vergessen. Er lässt noch Almas tote Mutter auftreten, um Mahlers Bindung an sie zu illustrieren. In einem dann doch magischen Schlussduett von Hélène Bouchet und Lloyd Riggins erfüllt sich Mahlers Vision: Seine Musikideen haben im Doppelsinn Körper angenommen und sind Gestalt geworden.

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