Ach Ungarn, ach New York: Bilder der großen Fotoreporterkünstlerin Sylvia Plachy sind bis Ende August in der Flo Peters Gallery zu sehen

Flo Peters Gallery. Der Abschied von der Kindheit war plötzlich und brutal. Sylvia Plachy war 13 Jahre alt, als die Rote Armee den Aufstand der Ungarn niederschlug und ihre Eltern beschlossen, mit dem Kind aus Budapest in den Westen zu fliehen. Niemandem durfte sie etwas davon sagen, sie hatte einen Tag Zeit zum lautlosen Abschiednehmen von all den vertrauten Ecken und Gebäuden der Stadt. Die Flucht gelang. Nach zwei ziemlich demütigenden Jahren in Wien reiste die Familie in die USA aus, nach New York.

Unter den zahllosen großen Fotografen, die New York hervorgebracht und angezogen hat, repräsentieren nur wenige die Stadt so vollkommen wie Sylvia Plachy, und ihre Flüchtlingsbiografie ist dafür nahezu die Voraussetzung. Man braucht den europäischen Blick, diesen unauflösbaren Rest an Fremdheit in der Wahrnehmung, um diese Stadt, Nennheimat so vieler Glückssucher und Gestrandeter, Davongelaufener und Verjagter vom Alten Kontinent, in der Tiefe zu erfassen. Man braucht die unstillbare Sehnsucht nach einem verlorenen Zuhause, in das es kein Zurück mehr gibt, selbst wenn Sylvia Plachy ab Mitte der 60er-Jahre wieder nach Ungarn reisen durfte.

Die erste Kamera, eine Agfa Box, kaufte ihr der Vater bei einem Trödler, als sie in Wien auf die Ausreise warteten. 1964 dann, in New York, belegte Sylvia Plachy am Pratt Institute einen Kursus für Fotografie - eine Kunstform, die damals in den USA noch wenig Ansehen genoss. Der Dozent war André Kertesz, Ungar auch er, heimwehkrank nach Europa, grimmig und zart. Kertesz wurde ihr Mentor und großväterlicher Freund. Während im Gropiusbau in Berlin derzeit eine fabelhafte Kertesz-Retrospektive zu sehen ist, die all seine formalen Experimente und das schon früh virtuose Spiel mit Licht und Schatten dokumentiert, stellt Flo Peters jetzt eine Auswahl von Fotografien Sylvia Plachys aus. Darunter auch eine berührend intime Aufnahme von André Kertesz kurz vor seinem Tod 1985.

Die Schau umfasst Arbeiten aus nahezu 50 Jahren und folgt thematisch lose dem Gerundium "waiting". "Warten macht einen Großteil des Lebens aus, insbesondere bei Fotografen", sagt Sylvia Plachy. "Man muss nur im entscheidenden Moment präsent sein und auf den Auslöser drücken. Der Moment kommt nämlich nie wieder." Ihre Bilder, Reportage und Poesie in einem, haben oft einen sanften, untergründigen Witz. Sie korrespondieren mit dem Wesen dieser vollkommen unprätentiös auftretenden Fotokünstlerin.

Ein frühes Bild der Heimkehr auf Zeit: die Schwarz-Weiß-Aufnahme eines kleinen gedeckten Tischs. Knickfalten im Tischtuch deuten darauf hin, dass es frisch aus dem Schrank geholt wurde. An der Schmalseite, dem Betrachter zugewandt, liegt ein Gedeck für eine Person. Ein Becher, ein Teller mit Goldrand, Messer und Gabel, Teelöffel, die Serviette unter der Gabel akkurat gefaltet. Auf einem zweiten Teller aus demselben Service liegen drei Scheiben Brot. Griffbereit daneben eine Ausgabe von "Magyar Nemzet". Die Morgenzeitung. Das Licht fällt sanft von links und fängt sich in einer Vase auf dem Tisch. Sie ist leer.

Ein Stillleben. "Das ist bei meiner Großmutter", erzählt die Fotografin. "Sie war in Budapest geblieben, als wir flohen, und zog in mein Zimmer ein. Den Rest der Wohnung mieteten andere Leute. Sehen Sie den Kühlschrank da hinten? Der gehörte nicht meiner Großmutter. Es war ein Vorhängeschloss davor, die anderen Mieter misstrauten ihr. Das ist so in Osteuropa. Aber wahrscheinlich ist es überall so. Immer wenn ich sie besuchte, räumte sie mein altes Zimmer für mich und schlief auf dem Sofa. Das Frühstück war für mich."

Ein farbiges, extremes Querformat in der Ausstellung zeigt ein ganz anderes Tischarrangement. Schön poliertes Tafelsilber auf einem türkisen, schweren Tischtuch, Sets und Stoffservietten, die todschick und niedlich in kleinen rosa Miedern stecken. "Das habe ich für eine Zeitschrift fotografiert, in Beverly Hills, bei einer Bar-Mizwa."

Sylvia Plachy bewegt sich mit ihrer Kamera in den Welten des Kargen, der Entbehrung genauso sicher wie in den Sphären des Mondänen, in Städten genauso unfehlbar wie unterwegs und in der Natur. In den 80er-Jahren wurde sie zur meistgesehenen Foto-Essayistin New Yorks. Woche für Woche druckten die beiden so unterschiedlichen, jedes auf seine Weise einen wesentlichen Teil des Stadtgeists erfassenden Magazine "Village Voice" und "The New Yorker" ihre Bilder. Acht Jahre lang nahm sie die Leser der "Village Voice" mit ihren Bildern mit auf eine "Unguided Tour" durch das Stadtleben, wie sie es sah.

Im "New Yorker" bebilderte sie anderthalb Jahre lang als einzige Redaktionsfotografin die "Goings On About Town", die von neuen Bars über Theaterproben und Varietés bis zu Klubs und Jazzcafés das Kultur- und Ausgehleben der Stadt reflektieren. Der Ernst-von-Salomon-Preis 2010 ist nur eine der vielen Auszeichnungen für Plachys Arbeit. Eins ihrer bevorzugten Sujets: der Schauspieler Adrian Brody, der für die Darstellung der Titelfigur in Roman Polanskis Film "Der Pianist" den Oscar bekam. Auch bei Flo Peters hängen viele Brody-Motive. Kein Wunder. Adrian Brody ist Mutter Sylvias ganzer Stolz.

Sylvia Plachy heute 17 Uhr (Vernissage; Ausstellung bis 26.8.), Flo Peters Gallery (U Messberg), Chilehaus C, Pumpen 8, Di-Fr 10-18, Sa 11-15 Uhr