“Die Frau, die singt“ ist eine intelligent strukturierte Tragödie von antikem Ausmaß. Dennoch verliert sich der Film nie in seiner dramatischen Form.

Das Testament von Nawal ist ein Rätsel. Nicht nur möchte die Verstorbene nackt, ohne Sarg, ohne Zeremonie und mit dem Gesicht nach unten begraben werden. Auch erteilt sie ihrer Tochter Jeanne (Mélissa Désourmeaux-Poulin) und dem Sohn Simon (Maxim Gaudette) einen Auftrag, der die Zwillingsgeschwister vor den Kopf stößt. Bevor ein Grabstein auf der letzten Ruhestätte der Mutter errichtet werden darf, müssen die Kinder zwei versiegelte Umschläge überbringen: einen an den verstorben geglaubten Vater und einen an den Bruder, von dessen Existenz sie bisher gar nichts wussten.

Simon hält den Letzten Willen für eine verrückte Idee seiner debilen Mutter. Jeanne hingegen sieht in dem Testament einen Wegweiser zur verschütteten Familiengeschichte und macht sich auf die Spurensuche in ein nicht näher präzisiertes Land im Nahen Osten. In ihrem Heimatdorf erinnert man sich nicht gern an Nawal (Lubna Azabal). Als Christin hatte sie sich in einen Palästinenser verliebt. Die Familie tötete den Geliebten, um ihre "Ehre" zu retten, und gab das Kind, das Nawal von ihm erwartete, in ein Kinderheim.

Fast ihr ganzes Leben lang hat Nawal nach dem verlorenen Sohn gesucht und diese Suche hat sie mitten hineingeführt in die Wirren des Bürgerkrieges, in die grausamen Massaker zwischen Christen und Moslems, in den Kampf als militante Aktivistin und in die Folterkeller des Regimes. Langsam setzen Jeanne und Simon auf ihrer Reise in die Vergangenheit die Mosaiksteine zu einem Bild der Mutter zusammen, wie sie diese nicht kannten.

Mit "Die Frau, die singt" verfilmt der frankokanadische Regisseur Denis Villeneuve das Theaterstück "Verbrennungen" des Exil-Libanesen Wajdi Mouawad, das auch auf deutschsprachigen Bühnen schon mehrfach inszeniert wurde. Mit einer traditionellen Rückblendendramaturgie verbindet Villeneuve die Spurensuche der Kinder und die Erlebnisse der Mutter mit einer ebenso spannenden wie bedrückenden Spurensuche im Nahostkonflikt. Er verdichtet die intelligent strukturierte Geschichte schließlich zu einer Tragödie von antikem Ausmaß. Dennoch verliert sich der Film nie in seiner dramatischen Form, zeichnet ein sehr differenziertes Bild von der Grausamkeit eines Bürgerkrieges, dessen Wunden in den Seelen der Menschen noch längst nicht verheilt sind.

Bewertung: empfehlenswert

Die Frau, die singt Kanada 2010, 130 Min., ab 12 J., R: Denis Villeneuve, D: Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette, täglich im Abaton, Blankeneser, Zeise; www.arsenalfilm.de/die-frau-die-singt