Thomas Harlan erzählt in “Veit“ von einem väterlichen “Riesen“. Der Autor ist der Sohn des berüchtigten Regisseurs Veit Harlan (“Jud Süß“)

Fast ein Leben lang hat sich Thomas Harlan gegen den Vater aufgelehnt. Als junger Mann zündete er mit Klaus Kinski in München ein Kino an, in dem nach dem Krieg ein Film seines Erzeugers gezeigt wurde. Des Regisseurs Veit Harlan, der während des Dritten Reiches mit Werken wie "Jud Süß" (1940) die Judenhetze der Nationalsozialisten anheizte. In Polen recherchierte Thomas Harlan, um die Vergasung von Tausenden zu dokumentieren. Kurz vor dem Tod des Vaters aber reist er 1964 nach Capri an dessen Sterbebett und holt sich von ihm die Absolution.

"Ich glaube, ich habe dich verstanden, ich habe deine Kämpfe verstanden, auch die Kämpfe gegen mich", sagt der Vater zum Sohn. Der Mann, der sich von Joseph Goebbels vereinnahmen ließ. Der sich nie für seine Taten schämte, sondern die Scham seinen Kindern überließ. Bewunderung und Ekel wechseln einander ab vor diesem Übervater, der für ihn "Riese" war und quälende Bürde.

Kurz vor dem Tod 2010 in Berchtesgaden, als er schon nicht mehr schreiben konnte, diktierte Thomas Harlan sein Vermächtnis an den Vater. In hypnotischer Sprache spürt er der Beziehung nach. Zerrissene Litaneien wechseln sich ab mit erzählenden Passagen. Verzweifelten Klagen folgen marternde Selbstanklagen. "Ich habe Dich getragen wie eine Verantwortung. Ich will Dich tragen, ich will Dich bis ans Ende der Jahre tragen wie eine Schuld."

Auf sprachlich beeindruckende Weise wie schon in den Romanen "Rosa" (2000) und "Heldenfriedhof" (2006) zeigt der 1929 geborene Thomas Harlan die Möglichkeiten von Literatur auf und erläutert im Anhang mit geradezu wissenschaftlicher Genauigkeit die geschichtlichen Fakten.

Er berichtet, wie der Vater ihn und seine Mutter Hilde Körber sitzen lässt, um die Schauspielerin Kristina Söderbaum zu heiraten. Dieselbe Kristina, mit der Veit 1948 von der jüdischen Intendantin Ida Ehre aus den Hamburger Kammerspielen verwiesen wird, als er sich den Defa-Film "Ehe im Schatten" ansehen will. Harlan erzählt, wie der Vater 1940 aus Lublin eine Postkarte von den Dreharbeiten schreibt, auf der er Zwangsarbeitern, die als Statisten für "Jud Süß" abgestellt wurden, stolz attestiert: "Die Juden arbeiten gerne mit mir." Und es ist die Rede davon, wie die Nazis in ihren Konzentrationslagern Gänse hielten, um die Schreie der Juden in den Gaskammern zu übertönen.

Noch einmal benennt Thomas Harlan die deutschen Kriegsverbrecher mit Namen, die nach 1945 weiter Karriere machten, als wäre nichts gewesen. Den "Blutrichter" Walter Tyrolf, der 1943 am Hamburger Sondergericht Menschen wegen Bagatelldelikten zum Tode verurteilte. Nach dem Krieg arbeitete Tyrolf weiter als Richter und sprach die Ärztin Ingeborg Margarete Wetzel frei, die für die Euthanasie von mindestens 50 behinderten Kindern mitverantwortlich war. Später heiratete er sie. Oder Victor Capesius, der als Lagerapotheker in Dachau und Auschwitz-Birkenau mit Josef Mengele zusammenarbeitete und 1950 schon wieder eine Apotheke in Göppingen eröffnete.

Thomas Harlan hat mit "Veit" ein beeindruckendes Requiem für seinen Vater geschrieben. Verstörend, was die historischen Fakten angeht. Faszinierend, was die stilistische Umsetzung betrifft. Die Ambivalenz des Sohnes findet so literarisch eine Entsprechung. Gebrochen zwischen Liebe zum Vater auf der einen und abgründiger Verachtung auf der anderen Seite. Ein dünnes, aber (ge)wichtiges Buch. Eine Bilanz zweier Leben. Eine beschämende Parabel für all die Kinder, die in ihrem Leben die Schuld tragen müssen, vor der ihre Eltern fortwährend auf der Flucht sind.

Thomas Harlan: "Veit". Rowohlt, 158 S., 17,95 Euro