Madrid, Stuttgart, Athen: Wo in diesen Tagen protestiert wird, da taucht die Maske von Guy Fawkes auf. Wer war dieser Mann eigentlich?

Hamburg. Zu den heimlichen Gewinnern jener Aufstände, die in jüngster Zeit den Alltag in Europa prägen, gehört ein Mann, der schon seit 305 Jahren tot ist: Guy Fawkes. Als letztes Jahr gegen die Verhaftung von WikiLeaks-Chef Julian Assange protestiert wurde, trugen etliche Demonstranten seine Maske. In den sozialen Netzwerken haben ungezählte junge Idealisten sein Gesicht als Profilbild gewählt. Und bei den Demonstrationen in Spanien und Griechenland sieht man immer mehr Menschen mitmarschieren, die sich als Guy Fawkes verkleidet haben.

Der katholische Offizier mit dem markanten Musketierbart wollte am 5. November 1605 das britische Parlament und den König in die Luft sprengen. Das genügt, um Guy Fawkes zu einem Rollenmodell für all jene zu machen, die mehr oder weniger radikal gegen die Autoritäten kämpfen. Aber seine späte Karriere als Werbefigur des Anarchismus ist dennoch erklärungsbedürftig, weil sie scheinbar aus dem Nichts kommt.

Der Ausgangspunkt des Fawkes-Booms liegt wohl im Jahre 2008. Damals startete das Kollektiv Anonymous, das vor allem durch spektakuläre Hacker-Angriffe bekannt geworden ist, eine Kampagne gegen die Scientology-Sekte. Es ging im Kern um die Freiheit des Internets, denn Scientology hatte versucht, bei YouTube ein Video verbieten zu lassen, das den Vorzeige-Scientologen Tom Cruise zeigt, wie er unverblümt über die Ziele der Bewegung spricht. Damals gab es auch Demonstrationen vor Gebäuden, die Scientology gehören. Auf alten Fotos kann man sehen, dass die Demonstranten vor der Londoner Zentrale schon Guy-Fawkes-Masken trugen. Das Häufchen, das dem Protestaufruf in München folgte, vermummte sich noch mit konventionellen Sonnenbrillen.

Heute ist Guy Fawkes für Anonymous zu einer Reklamegestalt geworden, fast wie Ronald McDonald für McDonald's steht oder Uncle Sam für Amerika. Das andere Erkennungszeichen von Anonymous - ein kopfloser Mann, der eben Anonymität symbolisiert - ist nicht annähernd so bekannt. Als neulich verkündet wurde, dass Anonymous künftig gemeinsam mit der ursprünglich angefeindeten Hackerkonkurrenz von Lulzsec geheime Informationen stehlen und veröffentlichen wolle, inspirierte das einen Karikaturisten auf der Nachrichtenseite des australischen Medienkonzerns ABC zu einer Zeichnung, die einen Sekt trinkenden Guy Fawkes zeigt. Jeder Internetaktivist verstand sofort, dass es sich um eine Verschmelzung der Wappengestalten der beiden Hackerkollektive handelte: Lulzsec wirbt mit einem Zylindermann, der ein Champagnerglas hält.

Dass die Guy-Fawkes-Masken erstmals von britischen Aktivisten getragen wurden, ist nicht verwunderlich. Denn in England wird jedes Jahr am 5. November mit Feuerwerk und karnevalartigen Veranstaltungen des "Gun Powder Plots" gedacht, bei dem Fawkes 1605 zahlreiche Fässer mit Schießpulver in den Kellern unter dem Londoner Parlamentsgebäude versteckt hatte. Trotzdem kam lange Zeit niemand auf die Idee, die populären Masken mit ernsthaften politischen Anliegen aufzuladen. Dazu bedurfte es erst des Genies von Alan Moore.

Der britische Comicautor erlebte in den Achtzigerjahren einen seiner ersten größeren Erfolge mit "V wie Vendetta". Darin führt ein anarchistischer anonymer Einzelkämpfer einen Bombenkrieg gegen den totalitären Staat, zu dem sich England entwickelt hat. Das Buch verarbeitet die Paranoia linker und liberaler Intellektueller, die während der Regierungszeit von Margaret Thatcher ernsthaft eine faschistische Gesellschaft nach Art von George Orwells "1984" heraufdämmern sahen.

Der Held von "V wie Vendetta" trägt immer eine Guy-Fawkes-Maske. Nicht nur, um unerkannt zu bleiben, sondern auch, weil ihm seine Identität bei medizinischen Versuchen geraubt wurde. Am Ende gelingt es ihm mit seinen Bombenanschlägen und anderen Attentaten tatsächlich, das Volk aufzuwiegeln und das Regime zu stürzen.

"V for Vendetta" wurde 2006 verfilmt, die Produzenten waren die Wachowski-Brüder, die Schöpfer von "Matrix", einem anderen Film, der für viele Pop-Anarchisten den Rang eines Evangeliums einnimmt. Durch das Kino erreichte Moores Schöpfung eine Breitenwirkung, die der Comic nie hatte. Von dort führt wohl die Spur zu den Masken der Anonymous-Leute in London 2008. In Deutschland tauchten Guy-Fawkes-Larven spätestens 2009 im Rahmen der Proteste gegen Netzsperren und die anderen "Zensur"-Pläne der damaligen Familien- und Innenminister Ursula von der Leyen und Wolfgang Schäuble zum ersten Mal auf.

Neu ist nun, dass Guy Fawkes die Sphäre der Netzkultur verlassen hat. Es begann mit einzelnen Avantgardisten der Politmode, die nach einem neuen revolutionären Chic suchten - so etwa der Demonstrant Stephon Boatwright, der bei Facebook als Beruf "Revolutionär" angibt, beim G20-Gipfel im September 2009 in Pittsburgh. Die Macht der westlichen Popkultur offenbart sich auch in einem Foto, auf dem eine tunesische Schulklasse während der Jasmin-Revolution zu sehen ist, die sich komplett mit Guy-Fawkes-Masken ausstaffiert hat. Einzelne Fawkes-Darsteller sah man sogar bei den schwäbischen Wutbürgerprotesten gegen Stuttgart 21. Und mittlerweile kann man das Fawkes-Outfit sogar via Amazon bestellen.

Zum unübersehbaren Massenphänomen wurden die Masken aber erst jetzt in Spanien: Hier werden sie nicht nur bei Protesten gegen die Internet-Zensurpläne des Kulturministers Angeles Gonzalez Sinde zur Schau getragen, sondern längst auch als Zeichen allgemeinen Misstrauens gegen die politische Klasse - sagt man doch über Guy Fawkes, er sei der einzige Mensch gewesen, der jemals ein Parlament mit ehrlichen Absichten betreten habe.

Die Spanien-Verbindung hat aber auch noch einen bizarren Subtext. Denn der echte Fawkes war ein katholischer Fundamentalist, der als Söldner für Spanien kämpfte, das man mit einigem Recht als das totalitäre Reich des Bösen der Barock-Epoche bezeichnen könnte - sein Freiheitsbegriff unterschied sich also fundamental von demjenigen seiner jungen Fans heutzutage. Frei sein sollten in der Vision dieses Terroristen nur seine rechtgläubigen Glaubensbrüder. Obendrein scheiterte er mit seinem Anschlag und wurde 1606 hingerichtet.

Wenn also unbedingt ein fundamentalistischer katholischer Attentäter als Inspirationsquelle herhalten muss, sollten die Revolutionäre vielleicht doch besser François Ravaillac wählen. Denn dem gelang es immerhin, tatsächlich einen Monarchen umzubringen. Am 14. Mai 1610, knapp fünf Jahre nach Fawkes' gescheitertem Versuch, erstach Ravaillac Frankreichs "guten König" Henri IV. - eine Form des Attentats, die übrigens auch der Held von "V wie Vendetta" gerne anwendet.

Besser ist die Welt dadurch nicht geworden: Henri IV. wurde ersetzt von Leuten, die weitaus schlimmer waren als er, die Mächte der Finsternis triumphierten und feierten ihren Sieg mit Ravaillacs Hinrichtung, die - ähnlich wie die von Guy Fawkes - dem Zeitgeschmack entsprechend als langwieriges und einfallsreiches Theater der Grausamkeit inszeniert wurde.