Mitunter fordert Literatur ihre Leser. Doch wer sich nicht mit Texten zufrieden geben will, die bloße Zerstreuung beabsichtigen, und es ernst nimmt, dass große Kunst verstörend wirkt und nicht auf den ersten Blick zu begreifen ist, der kann auch heutzutage Entdeckungen machen. Der 1945 geborene Pierre Michon, hierzulande zuerst vom feinen Bremer Manholt Verlag entdeckt, avanciert nach und nach zu einem der herausragenden, schwer in die üblichen Urteilsraster zu pressenden französischen Autoren. Seine im Original bereits 1996 erschienene Geschichte "La Grande Beune" spielt in Frankreich, der tiefen Provinz, im Département Dordogne, und taucht ihre Figuren schon nach wenigen Seiten in ein magisches Licht, das im Lauf des Geschehens an Zauber gewinnt. 1961 tritt ein 20-Jähriger dort eine Lehrerstelle an. Ein paar Häuser, eine Herberge, wo sich die Einheimischen allabendlich zu schweren Speisen und schweren Getränken treffen - mehr, so scheint es, ist in diesem von der modernen Zivilisation kaum betroffenen Dorf nicht zu erwarten. Bis die Gedanken - und die sinnliche Gier - des jungen Erzählers ganz von Yvonne beherrscht werden, von einem "Prachtweib", das den Tabakwarenladen betreibt und die Fantasien des Lehrers keineswegs nur mit platonischen Vorstellungen okkupiert.

Was immer fortan an eindeutigen, ja gewaltsamen Imaginationen auftaucht - nie gelingt es dem lustvoll Gepeinigten, sich dem Objekt seiner Begierde, der anderweitig gebundenen Yvonne, zu nähern. Trost findet er bei einem unkomplizierten Mädchen, das seinen Renault Dauphine zum Liebesspiel bereitstellt. Pierre Michon malt mächtige, dunkle Bilder, die, wie Jürg Laederach in seinem Nachwort schreibt, einen "Chitinpanzer" um die Vorgänge legen. Auf diese Weise entfaltet sich eine lyrische Prosa der archetypischen Momente, und es nimmt nicht wunder, dass die ganz in der Nähe gelegene Höhle von Lascaux in dieses Szenario eines Traums eingebunden wird, der "geschärft" wird durch "jene Ereignisse, die man für Wirklichkeit hält". Gut, dass Literatur ihre Leser mitunter fordert.

Pierre Michon: "Die Grande Beune". Aus dem Französischen von Katja Massury. Suhrkamp Verlag, 103 Seiten, 12,90 Euro.

In "Aufgeblättert" stellen im Wechsel Rainer Moritz , Annemarie Stoltenberg (NDR) und Wilfried Weber (Buchhandlung Felix Jud) Bücher vor.