Geschichten aus dem Dunkel: Nina Petri und Henning Venske führen heute die szenische Lesung “ Der Blindensturz“ auf

Polittbüro. Der Schriftsteller Gert Hofmann (1931-1993) ist ein Autor, den Thomas Ebermann von der Hamburger Veranstaltungsreihe Vers- und Kaderschmiede besonders schätzt. Schon 2007 führte er "Unsere Eroberung" als szenische Lesung auf. Auch seine Texte "Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Lenz nach Riga" und die absurde "Unterhaltung, an Bord der Titanic, aus Anlass ihres Untergangs, zwischen John Jacob Astor und 5seinem Friseur" hat Ebermann bereits in Szene gesetzt. Bevor die Vers- und Kaderschmiede in die Sommerpause geht, hat der Publizist und Regisseur sich eines weiteren Werkes von Gert Hofmann angenommen, das 1985 erschienen ist: "Der Blindensturz".

Hofmann erzählt darin die Vorgeschichte eines Bildes, das der mittelalterliche Künstler Pieter Bruegel der Ältere im Jahr 1568 gemalt hat. "Der Blindensturz" ist quasi die Rekonstruktion dieses Mal-Aktes, denn Hofmann lässt die Blinden erzählen. Sie sind Behinderte, leben am Rand der Gesellschaft und sind von Almosen abhängig. Als der Maler mit dem Wunsch an die in einer Scheune lebende Gruppe dieser Versehrten herantritt, sind diese hocherfreut, dass sich jemand für sie interessiert und ihnen durch dieses Modellstehen Würde geben will.

Doch die Aufwertung ist nur eine scheinbare: Zunächst ist niemand bereit, die Blinden zu Brueghel zu führen, dann will der Künstler sie nur aus der Distanz malen, und schließlich lässt er sie über eine Brücke gehen und sie müssen sich einer nach dem anderen in einen Teich stürzen. Der Maler wird so zum Voyeur des Leidens.

Brueghel hat das Bild in verschiedenen Varianten gemalt. Es zeigt, wie diese elenden Gestalten durch Stöcke und durch Hand-auf-Schulter miteinander verbunden sind und im Gänsemarsch durch das dörfliche Ambiente trotten. Mitgefühl mit diesen Elenden ist hier nicht zu spüren, das Bild ist eher Ausdruck einer Schreckensvision. Brueghel hatte selber Angst davor, blind zu werden. Kunsthistoriker haben sein Bild so interpretiert, dass er den Schrecken der Blindheit für die Ewigkeit auf einer Leinwand festhalten wollte.

Doch es gibt auch einen religiösen Betrachtungsansatz. Danach wollte Brueghel ein im Matthäus-Evangelium festgehaltenes Jesus-Zitat visualisieren: "Lasst sie, sie sind blinde Blindenführer. Wenn aber ein Blinder den anderen führt, so fallen beide in die Grube." Die Literaturwissenschaftlerin Anne Kathrin Reulecke schreibt dazu, dass physische Blindheit in philosophischen und religiösen Diskursen untrennbar verbunden sei mit einer weiteren symbolischen Bedeutung. Blindheit und Unvernunft oder Unglaube bebilderten sich danach gegenseitig.

Wie bei den szenischen Lesungen der Vers- und Kaderschmiede üblich hat Thomas Ebermann wieder erstklassige Schauspieler und Sprecher aufgeboten, um Hofmanns Erzählung auf die Bühne des Polittbüros zu bringen. Nina Petri, gefragte und prominente Film- und Fernsehschauspielerin, gehört diesmal ebenso zum fünfköpfigen Ensemble wie Henning Venske, einer der besten Hamburger Kabarettisten. Die Schauspieler Oliver Törner und Rainer Schmitt konnte Ebermann ebenfalls gewinnen. Last but not least ist Robert Stadlober dabei, der gerade im Kino mit dem Film "Der Mann, der über Autos sprang" Erfolge feiert. Stadlober springt für Michael Weber ein.

Hofmann nimmt in seinem Text das Thema der Würde behinderter Menschen sehr ernst, doch es gibt im "Blindensturz" durchaus komische Elemente, wenn die Blinden in ihren Dialogen eine ganz eigene Schläue entwickeln und sich nicht einfach damit zufriedengeben, Objekt eines voyeuristischen Blickes zu sein. Am Ende werden diese Hilflosen zwar wieder in die für sie dunkle Welt gestoßen, aber sie sind Teil der Kulturgeschichte geworden: Als gemaltes Bild bleiben sie im kulturellen Gedächtnis präsent.

Der Blindensturz Mo 20.6., 20.00, Polittbüro (U/S Hauptbahnhof), Steindamm 45, Karten 15,-/10,-; T. 28 05 54 67; www.polittbüro.de