Mit “Der letzte Sommer auf Long Island“ setzt Colson Whitehead die Tradition der großen amerikanischen Mittelschichtsromane fort

Die Highschool habe er gehasst und Bücher über das Erwachsenwerden nie gemocht, erzählt Colson Whitehead. "Mit Holden Caulfield aus Salingers ,Catcher In The Rye' konnte ich nichts anfangen. Ich fand immer, man müsse ihm ein wenig Prosac geben oder eine Xbox. Vielleicht wäre es dann ein dünneres Buch geworden." Antidepressivum hin, Spielekonsolen her: Heute ist Whitehead älter. Hat "ein bisschen Therapie hinter sich", wie er mit einem Grinsen im Gesicht sagt. Und legt nun selbst einen Jugendroman vor.

"Der letzte Sommer auf Long Island" heißt er und ist ein bezaubernd unspektakulärer Erinnerungsroman, der ins Jahr 1985 zurückführt. Benji und Bruder Reggie sind Kinder einer typisch amerikanischen Bill-Cosby-Familie. Der Vater ist Arzt, die Mutter Anwältin. Sie entstammen einer schwarzen Mittelschicht, die es geschafft hat. Die Jungs sind gewohnt, die einzigen Schwarzen an der Privatschule in Manhattan zu sein. Aber einmal im Jahr kommen sie raus. Nach Long Island, wo sie den Sommer mit anderen Kindern verbringen. Im Strandhaus, das sich ihr Großvater hart erarbeitet hat.

Liebevoll und mit geübtem Blick fürs Detail erzählt Whitehead, der selbst in einer schwarzen Familie der Mittelschicht aufwuchs, von den Ferien auf der Landzunge vor New York City. Von dem Job bei Jonni Waffle und den "Tittenkollisionen" hinter der Theke mit Schwarm Meg. Von der Schlacht mit dem Luftgewehr, an die ihn noch heute eine Kugel zwischen Auge und Nasenwurzel erinnert, weil er sich nicht traute, den Eltern davon zu erzählen. Und von den Autofahrten mit Freunden an den Strand, wo es getrennte Areale für Schwarze und Weiße gibt. Zwar nur noch in den Köpfen. Aber immer noch vorhanden.

Colson Whiteheads stark autobiografisch motivierter Roman erzählt nicht nur von einer Jugend in den 80ern. Er setzt auch die amerikanische Tradition der großen Romane über die Mittelschicht fort. Er erzählt von den hoch gesteckten Ansprüchen, an denen die Menschen zerbrechen.

Das Buch lässt sich so in eine Traditionslinie mit Richard Yates, John Updike bis hin zu Richard Russo einreihen. Es handelt auch von der Befreiung der Afroamerikaner und deren Weg in die Gesellschaft, der 1963 mit Martin Luther Kings "Marsch auf Washington" einen frühen Höhepunkt erlangt und mit Barack Obama als erstem dunkelhäutigen Präsidenten der Vereinigten Staaten endet.

Schon als Kind spürt Benji "diese Zweiheit - ein Amerikaner, ein Neger; zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnt miteinander konkurrierende Bestrebungen; zwei einander widerstreitende Ideale in einem dunklen Leib, dessen hartnäckige Kraft allein verhindert, dass er entzwei gerissen wird". In Bruder Reggie spiegelt sich diese Zerrissenheit metaphorisch. Sie setzt sich fort im schwierigen Verhältnis der Eltern zueinander. Morgens lauscht Benji im Bett, ob die Luft rein ist oder ob Vater und Mutter wieder streiten. Immer hat der Junge Angst, die Nachbarn könnten etwas mitkriegen. Bis er das Haus verlässt und sich wundert, dass auf der Straße nichts zu hören ist.

Das Gehenlernen als Akt der Befreiung. Ein einfaches Bild, das Whitehead nur anreißt, nie ausspricht. Darin liegt die große Qualität dieser von Nikolaus Stingl sehr einfühlsam ins Deutsche übersetzten Jugend. Formal kommt das Buch nicht so geschlossen daher wie die perfekter komponierten Romane "John Henry Days" (2004) oder "Apex" (2007). Manchmal reiht Whitehead zu sehr Erinnerungen aneinander, verliert bei all dem Geplauder das Ganze aus den Augen. Aber gerade das macht Jugend doch ein Stück weit aus: nicht immer restlos perfekt zu sein.

Colson Whitehead: "Der letzte Sommer auf Long Island", Deutsch v. Nikolaus Stingl, Hanser, 330 Seiten, 21,90 Euro