Kultur verlangt manchmal Sitzfleisch - es lohnt sich

Es gibt diese Momente im Leben, die sich einfach tief ins Gedächtnis (und ins Gesäß) eingebrannt haben. 1999 bei den Salzburger Festspielen: Vor der atemberaubenden Bergkulisse der Perner Insel in der Nebenstelle Hallein mühten sich auf der Bühne ein Dutzend Schauspieler anlässlich der Premiere von Tom Lanoyes "Schlachten" bei 35 Grad Außentemperatur ab. Regisseur Luk Perceval, heute Oberspielleiter am Thalia-Theater, führte bei dem Monsterepos über acht Shakespeare-Dramen Regie. Die königlichen Rosenkriegs-Scharmützel zogen sich über satte zwölf Stunden hin. Das klingt erst einmal abschreckend. Auf jeden Fall war es ein Anschlag auf die Kondition selbst hartgesottener Kulturaficionados.

Man saß auf ungepolsterten Holzbänken ohne Rückenlehne. Erst schmerzte das Gesäß, dann ziepte es unterhalb der Schultern, später wollten die Beine nicht mehr und zwischendurch kapitulierten auch mal die grauen Zellen. Immerhin boten drei lange Pausen genügend Zeit, die Batterien wieder aufzuladen und die Glieder zu bewegen. Als am späten Abend der Applaus aufbrandete, wusste man nicht, wer mehr geleistet hatte, Zuschauer oder Darsteller.

Und wie es eine gute Tradition ist, beklatschten sich beide minutenlang artig gegenseitig. Man kennt diese Rituale der Anerkennung auch von Wagners Opern-Zyklus "Der Ring des Nibelungen", dessen einzelne Teile bis zu sechs Stunden auf die Uhr bringen, oder von vergleichbaren Marathon-Veranstaltungen, die Volksbühnen-Intendant Frank Castorf etwa mit seinen Dostojewski-Adaptionen in Berlin anzettelte.

Häufig ist der Zuspruch am Ende ein Mix aus mehreren Elementen. Da ist zum einen die Tatsache, eine lange Veranstaltung abgesessen und ohne Notarzt oder Delirium überstanden zu haben. Zum anderen der Kniefall vor der Konsequenz eines Regisseurs, ein so gewagtes Unterfangen zu starten, das den Gewohnheiten eines wohlportionierten Kulturgenusses in unserer schnelllebigen Zeit komplett zuwiderläuft. Und natürlich ist man als Besucher auch ein wenig stolz darauf, diesen geballten Anschlag auf Körper, Geist und alle Sinne nicht nur angenommen, sondern auch bewältigt zu haben. Nun war die "Schlachten"-Inszenierung tatsächlich so fesselnd, kurzweilig und großartig, dass die Stunden wie im Nu verflogen. Bei der anschließenden Übernahme in den Spielplan des Schauspielhauses hielt die damalige Intendanz Frank Baumbauer dennoch vorsichtshalber einen Masseur hinter den Kulissen bereit.

Ganz so uferlos wie Luk Perceval geht Regisseur Nicolas Stemann nicht vor. Aber auch in seiner ruhmreichen, mit einer Einladung zum Berliner Theatertreffen geadelten Elfriede-Jelinek-Uraufführung "Die Kontrakte des Kaufmanns" zählte eine Digitalanzeige unerbittliche vier Stunden abwärts. Immerhin durften die Zuschauer während des Stückes kommen und gehen, wie sie wollten, und sich zwischendurch an der Bar erfrischen. Sie riskierten nicht einmal, einen Satz zu versäumen. Der Ton wurde ins Foyer übertragen.

Beflügelt vom Erfolg der Inszenierung bei Kritik und Publikum ist Stemann offenbar auf den Geschmack langer postdramatischer Exegesen gekommen. Derzeit bereitet er für die Premiere bei den Salzburger Festspielen und die spätere Hamburg-Premiere am 30. September seine Version von Goethes "Faust I + II" vor. Neugierige können sich bei einer - so gut wie ausverkauften - Probe am 16. Juni vorab einen ersten Eindruck verschaffen. Anvisierte Dauer: fünf Stunden. Es ist die erste Inszenierung beider Teile in Hamburg seit sage und schreibe 31 Jahren. Das freut den Bildungsbürger. Aber auch all jene, die Lust am Extrem und am kulturellen Masochismus verspüren. Denn zwei Stunden "Tarzan" absitzen kann schließlich jeder.