Der Russe Walam Schamalow berichtet vom sibirischen Lager

In den 60er-Jahren bricht in Moskau ein Mann auf der Straße zusammen. Als er wieder zu sich kommt, ist er überschwemmt von Erinnerungen an seine Lagerhaft. "Der Anfall", so der Titel der Geschichte im Band "Künstler der Schaufel", öffnet die Tür zu einer Welt unaussprechlicher Grausamkeit. Ihr Autor, Warlam Schalamow, besitzt die Stärke, sich seine Erinnerungen an ein Vierteljahrhundert Lager ins Gedächtnis zurückzurufen. Der Verlag Matthes & Seitz hat die Aufgabe übernommen, das Gesamtwerk von Schalamow herauszubringen, einem 1907 geborenen Russen, der die beste Zeit seines Lebens als politischer Gefangener in Sibirien am Kolyma-Strom verbrachte und 1982 in Moskau starb. Das Lager gab ihm sein Thema, das er zu literarischen Juwelen verarbeitete. Larmoyanz und Pathos sind ihm fremd.

Schalamows Erzählungen bilden ein Mosaik der Hölle am Kältepol der Erde, wo monatelang minus sechzig Grad herrschen. Doch nicht die Unwirtlichkeit der Natur macht das Leben hier unerträglich, sondern die Haftbedingungen. Von der Lagerhierarchie berichtet Schalamow - die Ganoven herrschen über die Intellektuellen -, von der Arbeit im Bergwerk und dem Holzfällen auf Permafrostboden. Lagerexistenz ist in Russland kein Einzelschicksal. Millionen von Menschen verbrachten allein unter Stalin zehn oder zwanzig Jahre in Sibirien, im Bergwerk, bei Kälte, Hunger und Läusen. Aber nur ein paar haben Worte gefunden für das, was mit ihnen geschah. Was ihnen widerfuhr, sofern sie länger als ein paar Wochen lebten.

Zunächst einmal zeigt uns Schalamow, wie die Patina menschlicher Sozialisation nach drei Wochen Hunger, Schlägen und Schwerstarbeit in der Kälte abfällt. Übrig bleibt ein wildes, wölfisches Wesen. Da hören wir von einem belesenen Aufseher, den die Liebe zur Kunst nicht davon abhält, ein kalter Schlächter zu sein. Wir hören von der Rache des kleinen Mannes an seinem grausamen Vorgesetzten: Dieser sitzt im Dampfbad, einer Art Tonne, und erwärmt sich mit einem eingetauchten Rohr, aus dem Wasserdampf bläst, das kalte Badewasser - was man sich ähnlich vorzustellen hat wie das Erhitzen der Milch beim Cappuccino in Kaffeemaschinen. Er klopft an die Wand der Bretterbude, das vereinbarte Zeichen, dass jener den Dampf abdrehen soll. Der tut es aber nicht, sondern lässt das Ekel genüsslich zu Tode kochen.

Schalamow bringt es fertig, den Leser immer tiefer in seine Welt hineinzuziehen und ihn dann nicht mehr freizugeben. Entstanden ist großartige Literatur, auf einer Stufe mit Solschenizyn, mit der Wucht Tschechow'scher Kurzgeschichten.

Warlam Schalamow: Künstler der Schaufel . Übersetzt von Gabriele Leupold. Matthes & Seitz Verlag Berlin, 603 S., 29,90 Euro.