Wenn der eigene Vater mit 75 Jahren sein Coming-out hat, was tut man dann als Sohn? Mike Mills hat mit “Beginners“ einen Film darüber gedreht.

Berlin. Es ist heiß an diesem Frühsommertag in Berlin, nur auf der Terrasse des Cafés, auf der sich Mike Mills für ein gut gepolstertes Rattansofa entschieden hat, ist es schattig. Doch er lehnt sich nicht zurück, für die gesamte Zeit des Interviews bleibt er auf der Kante des Sofas sitzen. Er braucht Bewegungsfreiheit, das merkt man rasch - dem US-Regisseur geht dieses Gespräch über seinen neuen Film "Beginners" und sein eigenes Leben durchaus nahe.

Hamburger Abendblatt: Wie haben Sie reagiert, als Ihr 75-jähriger Vater erklärt hat, dass er homosexuell ist?

Mike Mills:Im Gegensatz zu meiner Filmfigur hatte ich noch zwei ältere Geschwister. Als ich 18 war, hat meine Schwester mir erzählt, dass mein Vater - bevor er meine Mutter geheiratet hat - schwul war. Aber das war für mich etwas, was in der vorehelichen Vergangenheit meiner Eltern lag, und ich habe weder mit meiner Mutter noch mit meinem Vater je darüber gesprochen. Deshalb kam das Coming-out meines Vaters für mich nicht vollkommen überraschend. Überraschend hingegen war, dass mein Vater mit 75 noch einmal sein ganzes Leben umgekrempelt hat. Er wollte seine Sexualität ausleben und sich neu verlieben. Die große Explosion in unserer Familie war der Tod meiner Mutter, ich hatte Angst, dass mein Vater ihr bald folgen würde. Als er mir nach dem Tod meiner Mutter sagte, dass er schwul ist, war das für uns Kinder in dieser Situation keine große Sache. Schließlich zeigte dieses Coming-out auch: Er lebt und will noch viel erleben.

Ihre Eltern haben in den 1950er-Jahren geheiratet und sind ein Leben lang zusammen geblieben. Was bedeutete Ehe für diese Generation?

Mills:Meine Eltern waren 30, als sie geheiratet haben, und das ist für diese Zeit sehr spät. Mit der Hochzeit haben sich die beiden in amerikanische Normalität eingefügt. Sie wollten ein Teil des Mainstreams sein. Aber so richtig verstehe ich ehrlich gesagt die Ehe meiner Eltern bis heute nicht. Darüber könnte man einen eigenen, abendfüllenden Spielfilm machen. Denn sie waren ja nicht unglücklich miteinander. Ihre Ehe war nicht eine große Lüge, die nach dem Tod meiner Mutter aufgedeckt wurde. Im Gegenteil waren sie sich in all den Jahren sehr nahe. Ich glaube, mein Vater wollte einfach unbedingt heterosexuell werden. Er war zu verängstigt, um seine sexuelle Identität anzuerkennen. Auf eine gewisse Weise war sein Coming-out auch für ihn eine Überraschung.

In den 1960er-Jahren tobte in den USA die sexuelle Revolution. Ist diese Ära an Ihrem Vater denn vollkommen vorbeigegangen?

Mills: Ja, das ist wirklich verrückt. In den 1960er-Jahren lebten meine Eltern in der Nähe von San Francisco. Das war die Hochburg der Schwulenbewegung. Harvey Milk wurde dort zum Stadtrat gewählt, und mein Vater war als Leiter eines Museums sicherlich nicht von den gesellschaftlichen Entwicklungen abgekoppelt. Aber das zeigt nur, wie sehr wir durch unsere Jugendjahre geprägt sind. Mein Vater entdeckte seine Sexualität als Teenager in den 1930er-Jahren. Das war eine sehr restriktive Zeit, in der er lernen musste, seine Neigungen zu verleugnen.

"Beginners" erzählt zum einen von der Ehe der Eltern, zum anderen von dem Sohn, der in einer neuen Liebe seine Beziehungsunfähigkeit überwindet. Bestimmen unsere Eltern, wie wir lieben?

Mills:Das ist eine sehr große Frage, die sich nicht in ein paar Sätzen beantworten lässt. Für uns Kinder waren unsere Eltern ein stabiles Paar. Aber unter dieser Oberfläche spürte man eine gewisse Leere. Irgendetwas fehlte, und dafür haben Kinder ein sehr genaues Gespür. Kinder fühlen Dinge, die sich ihre Eltern nicht eingestehen wollen. Meine Eltern strahlten aus, dass man dem Schein der Liebe nicht wirklich trauen kann, dass Liebe immer auch mit einer gewissen Traurigkeit verbunden ist, dass man das, was man will, in der Liebe nicht findet. Dieses Gefühl haben wir als Kinder in uns aufgesogen.

Trauer, Verlust, Liebe - Ihr Film handelt von großen Gefühlen. Wie haben Sie den Ton der Erzählung bestimmt?

Mills:Für mich gehört diese Mischung aus Humor und Traurigkeit zum Leben dazu. Das ist meine Art, auf die Welt zu blicken. Mein Vater war übrigens genauso. Wenn irgendetwas Schlimmes passiert ist, hat er erst einmal einen Witz darüber gemacht. Ich habe drei Jahre an dem Drehbuch gearbeitet, und während dieser Zeit bin ich selbst durch all diese Emotionen hindurchgegangen: Ich habe meinen verstorbenen Eltern hinterhergetrauert, ich habe mich neu verliebt, und so ist eine Ebene nach der anderen zur Geschichte hinzugekommen. Ich mag es, wenn Filme verschiedene Stimmungen zur gleichen Zeit ansprechen.

Ihr Film findet einen sehr zärtlichen Umgang mit der Traurigkeit seiner Hauptfigur. Wie viel Mut braucht man, um diese Traurigkeit im Kino zu zeigen?

Mills:Ehrlich gesagt, war ich mir dessen gar nicht bewusst, bis wir die ersten Testvorführungen gemacht haben und einige gesagt haben, dass der Film zu traurig sei. Es ist schon komisch: Wenn man in einem Film einen wütenden Menschen zeigt, der aus diesem Gefühl heraus einen anderen umbringt, ist das okay. Aber wenn man jemanden zeigt, der trauert, weil ein ihm nahestehender Mensch gestorben ist, gilt das als Kassengift. Für mich ist Traurigkeit eine selbstverständliche Facette des Lebens. Warum soll man die nicht im Kino zeigen dürfen?