Das Unvollendete als literarisches Ereignis: Über David Foster Wallaces Romanfragment “The Pale King“ und den Umgang damit.

Hamburg. Darf man als Verleger Bruchstücke eines Romans posthum veröffentlichen, sie ohne Autor als letzte, klärende Instanz sortieren, wie ein gewollt chaotisches Bühnenbild arrangieren? Bei vielen anderen wäre die Antwort ein bedauerndes, aber klares "Nein" gewesen. Die Reste wären den Literaturwissenschaftlern in den Elfenbeinturm geliefert worden und dort auf Nimmerwiederlesen verschwunden.

Bei David Foster Wallace aber, da sieht die Sache gleich ganz anders aus. Das Etikett "Kult-Autor" saß bombenfest bei DFW, und er hasste es. Ein brillanter, liebevoller, anstrengend schonungsloser Beobachter der Gegenwart war er, dessen Texte so oft brutal gut ins Gemüt krachten, dass man Angst bekam, länger darüber nachzudenken.

Wallace war an den eigenen Lebensängsten gescheitert. Er wollte ganz hoch, ganz frei über den Wolken seiner Imagination schreiben, und damit das gelang, setzte er Tabletten ab, die ihm Bodenhaftung verliehen, und geriet so außer Kontrolle. Dann, September 2008, erhängte er sich. Da war er 46.

Der Bestseller-Autor Jonathan Franzen ("Freiheit"), ein enger Freund von Wallace und von dessen Tod ins Mark seines Schreiberdaseins getroffen, veröffentlichte kürzlich im "New Yorker" einen Reisebericht darüber, wie er mit einem Teil der Asche des Toten, die ihm dessen Witwe übergeben hatte, zu einer Insel vor Chile reiste, um sie dort ins Meer zu streuen. Trauerarbeit als Magazinlektüre. All das ist schon Stoff wie aus einem DFW-Roman.

Nach dem durch Wallaces Freitod beschleunigten Erfolg des dampfend größenwahnsinnigen Epos "Infinite Jest" - in der deutschen Übersetzung "Unendlicher Spaß", ein Überraschungs-Renner - verlangte der Markt nach mehr. Die trauernden Fans, deren Erbsenzählereien etliche Blogs im Internet füllten, wollten sich nicht damit abfinden, dass so Schluss sein sollte. Als vor einigen Wochen dann "The Pale King" (548 Seiten, viel weniger Fußnoten als "Infinite Jest") in den USA hymnisch besprochen und auch noch gut verkauft wurde, war auf den ersten Blick die Freude groß und auf den zweiten das Erschrecken über das Pathos und die Fast-Heiligsprechung.

Denn das Buch, an dem Wallace jahrelang manisch gearbeitet hatte, lässt sich einfach nicht voreingenommen lesen, als wäre es wie jedes andere. Es sind nun mal, auch wenn für Herbst von Wallaces deutschem Verlag Kiepenheuer & Witsch einige bislang unübersetzte Kurzgeschichten angekündigt sind, seine "famous very last words".

In "The Pale King" erzählt Wallace kurze und lange Geschichten von seltsamen Männern, von Mitarbeitern der Bundesfinanzbehörde in den 1980ern, die in Peora, Illinois kafkaeske Dinge mit ihren Formularen anstellen und glauben, nur ihr Aktenschubsen würde die Welt, wie sie sie zu kennen glauben, als Akt heldenhafter Selbstaufopferung im Innersten zusammenhalten.

Es geht um unendliche Langeweile in einem unendlichen System, vieles davon liest sich quälend zäh. Doch immer wieder jagt er den Leser durch die Seiten, in Episoden wie der von dem Jungen, der sich antrainieren will, wirklich jeden Teil seines Körpers küssen zu können. Oder die brüllend komische Beschreibung eines harmoniesüchtigen Strebers, der so widerlich gutmenschelt, dass selbst die freundlichsten Lehrer bei seinem Anblick Gewaltfantasien bekommen. Oder die Geschichte über einen Flirtversuch zwischen zwei Steuerprüfer-Kollegen, der zur packenden Lebensbeichte unter vier Augen wird. Oder die Geschichte über den chronischen Schwitzer, der beim ersten panischen Gedanken daran noch mehr ins Schwitzen und also in einen Teufelskreis der ungewollten Transpiration gerät. Es gibt Hängepartien, Bruch-Stücke, Teile, die das größere Ganze ahnen lassen. Nur einen ganzen Roman, den gibt es nicht.