José María Sánchez-Verdús Oper “Aura“ beschließt die Ostertöne

Hamburg. Wirklichkeit? Welche Wirklichkeit? Was manch moderner Mensch sich erst von hoch bezahlten Psychologen erklären lassen muss, weiß die Kunst schon lange: Realität ist immer nur das, was wir für sie halten.

José María Sánchez-Verdú, der Composer in Residence der diesjährigen Hamburger Ostertöne, hat diesem diabolisch verwirrenden Tatbestand eine ganze Oper gewidmet. "Aura" heißt das zarte, an Querbezügen, Anspielungen, Fragezeichen überreiche Gewebe, mit dem die Ostertöne am Montag auf Kampnagel ihren Schlusspunkt fanden.

Die dürren Daten aus der zugrunde liegenden Novelle von Carlos Fuentes, dem großen alten Mann des lateinamerikanischen magischen Realismus, klingen noch ganz handgreiflich: Der junge Historiker Felipe soll im Auftrag der uralten Consuelo den Nachlass ihres verblichenen Gatten sichten und verliebt sich in die gerade mal 19-jährige Nichte Aura. Doch auf ein Handlungsgerüst verzichtete Sánchez-Verdú fast vollständig und die Inszenierung von Mirella Weingarten ebenso. Stattdessen fassten sie ein ganzes Kaleidoskop an Stimmungen in Bilder von reduzierter und umso bestürzenderer Schönheit.

Das Bühnenbild bestand lediglich aus einem ovalen Wasserbassin, auf dessen Rand die Sopranistin Sarah Maria Sun, die Mezzosopranistin Truike van der Poel und der Bass Andreas Fischer standen, alle weiß gekleidet und geschminkt. Ihren Platz verließen sie kaum je - umso stärker wirkten ihre Gesten und Körperhaltungen, ihre seltenen Schritte, ihre fein ziselierten, mit Wärme, Klugheit und verblüffender Wandelbarkeit gesungenen Passagen.

Das Kammerensemble Neue Musik Berlin entfaltete unter Sánchez-Verdús Dirigat unendlich viele Klangfinessen und Pianissimoschattierungen; die Tamtams und Gongs des "Auraphon", eigens für die Oper entwickelt, machten aus den Klangimpulsen der Musiker wahre Gespenstermusik. Und der Videokünstler Lillevan projizierte dazu mal Ornamente auf die Bühnenrückwand, mal Schattenrisse und dann wieder ein riesiges Auge, das von Luis Buñuel hätte sein können. Der Wiener Jugendstil, diese geistesgeschichtlich so ergiebige Zeitenwende, hatte in diesen Bildern ebenso Platz wie Anspielungen auf den Surrealismus.

In Auras Frage "Wirst du mich immer lieben? Auch wenn ich alt bin?" hob Sánchez-Verdú die Einheit von Zeit und Ort auf. Ist Aura am Ende Consuelo? Gibt es sie überhaupt? Die Lösung enthält sie uns vor, diese zarteste Dreiecksgeschichte, seit es literarische Sublimation gibt. Oder ist es nicht vielmehr eine Vierecksgeschichte? Wer sagt denn, dass Felipe nicht der verstorbene Ehemann ist?