Sigmund Freud lebte in Wien und seine Verlobte Martha in Wandsbek. Vier Jahre schrieben sie sich Briefe. Die erscheinen jetzt im Fischer-Verlag.

Es war Montag, der 17. Juli 1882, als in der Wandsbeker Claudiusstraße ein dunkel gewandeter, junger Mann vor einem Haus sehnsüchtig auf und ab ging. Der Mann war aus Wien gekommen, um seine Verlobte heimlich zu sehen, drei Monate war sie in Wandsbek auf Verwandtenbesuch. Zweimal ging der Mann an ihrem Fenster vorüber. "Du mußt mich das zweite Mal bemerkt haben, aber ich fürchte nichts; ich komme nicht mehr in die Claudiusstraße, ich weiß, daß ich hier sehr auffalle, mein gar nicht hanseatisches Schwarz, durch das Grau meiner Kleidung gehoben, macht, daß alle Leute mir nachsehen." So schilderte der Verliebte seine anfänglich erfolglosen Bemühungen.

Er, das ist Sigmund Freud, 26 Jahre alt war er damals. Seine Verlobte hieß Martha Bernays, er hatte sie in Wien über seine Schwestern kennengelernt. Jäh war die Leidenschaft in dem Nervenarzt entfacht, der später die Psychoanalyse erfand und als Zentralgestalt der Moderne gilt. Er liebte die 20-jährige Martha, und sie liebte ihn. Doch Mutter Emmeline sah die Liaison nicht gern; sie schickte Martha den Sommer über nach Wandsbek. Später zog die Familie sogar ganz in den Norden.

Zwischen 1882 und 1886 war das Brautpaar die meiste Zeit getrennt. Also schrieben sie sich, Sigmund Freud und Martha Bernays, teilweise mehrmals am Tag. Mehr als 1500 Dokumente sind aus diesem Briefwechsel erhalten. Der erste Band des bisher unveröffentlichten Textkonvoluts erscheint dieser Tage im S.Fischer-Verlag: "Sigmund Freud/Martha Bernays: Die Brautbriefe, Band 1. Sei mein, wie ich mir's denke".

Das Paar musste sich schreiben, um sich kennenzulernen. Kein Wunder, dass die Forschung der Korrespondenz überragende Bedeutung beimisst. In den Briefen zeichnen sich nicht nur die Charakterzüge des frühen Freud ab: Er sprach sich in den Briefen an Martha offen aus, und das schloss seine Arbeit mit ein. Der Dialog der beiden Brautleute ist zärtlich und intellektuell, er berichtet von Schwierigkeiten in der Beziehung, von der Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts (Freud reiste viel), von jüdischer Identität. Einen "Roman in Briefen" nennt Martha ihren Briefwechsel an einer Stelle ironisch.

Es ist ein Roman, der auch in Hamburg spielt. Zwar ist der eigentliche Ort der Handlung das Feld der Liebe (oder: die Romantik, das Umwerben einander Liebender), aber als tatsächliche Heimat der Braut bildet "Wandsbeck", wie Martha Bernays bisweilen in alter Schreibweise notiert, die Kulisse dieser frühen Jahre. Streng genommen lebte Martha Bernays nicht in Hamburg, Wandsbek war damals noch eigenständig. In den Briefen offenbart sich nicht nur Freuds Wesen, sondern auch das seiner Frau, mit der er später sechs Kinder haben sollte. Anders als im Eheleben war sie in dieser frühen Phase eine Gesprächspartnerin, mit der er alle Belange besprach. Freud wurde poetisch, wenn er schrieb, was sie ihm bedeutete: "Halt meine Hand fest auf unserer gemeinsamen Wanderung. Wenn ich Dich jetzt zu führen scheine, so bist doch in Wirklichkeit Du meine Stütze und mein leitender Engel."

Martha Bernays Großvater Isaak Bernays wurde 1821 als Oberrabiner an die deutsch-israelitische Gemeinde in Hamburg berufen, zurück nach Norddeutschland wollte die Familie immer. Sigmund Freud, der mittellose Arzt und nicht gläubige Jude, war nicht sonderlich wohlgelitten bei den ebenfalls nicht reichen Bernays, Marthas resolute Mutter hasste Freud geradezu.

Der hingegen suchte Martha, sein "Marthchen", sein "süßes Mädchen", den damaligen Gepflogenheiten entsprechend zu formen. Seine Eifersucht vermeintlichen Nebenbuhlern gegenüber flammte immer wieder auf, er wechselte jäh zwischen liebevoller Fürsorge und strengem Maßregeln. "Mein guter, liebster, bester, unangenehmer, unausstehlicher Freund, mein sanfter, nachgiebiger Tyrann, mein Sigi!", schreibt sie am 2. September 1882.

In der Einführung nennt Ilse Grubich-Simitis, neben Gerhard Fichtner und Albrecht Hirschmüller Herausgeberin der Briefe, die lange Verlobungszeit eine "éducation sentimentale". Wie in Flauberts Roman erproben die späteren Eheleute Freud eine Erziehung der Gefühle. In ihren Briefen, im persönlichen Umgang miteinander lernten sie, die beide unerfahren waren, die Liebe.

Nach Wandsbek reiste Freud mehrere Male. Der erste Besuch im Jahre 1882 hatte noch die Aura des Verbotenen. Als wäre er noch in Wien hielt Freud mit Martha in Briefen Kontakt. Die Rendezvous sollten im Wandsbeker Gehölz stattfinden, vor dem Claudiusstein, und da wartete Freud dann "auf mein süßes Mädchen, jeder schlanken Gestalt musste ich nacheilen, aber alle fand ich blond und kein Marthchen".

Matthias Claudius (1740-1815), der berühmteste Wandsbeker, war nicht der Einzige, auf dessen Spuren Freud (notgedrungen) wandelte: "Ich gehe nun in die Stadt, um mir einen Führer zu kaufen und unseren großen Lessing, dem ich gestern auf dem Gänsemarkt begegnet bin, wieder zu begrüßen."

Als der große Stilist Freud (auch Martha schreibt nicht selten bemerkenswert schöne Sätze) bei einem Wandsbeker Händler Briefpapier kaufen will, kommt er mit dem alten Juden ins Gespräch. Der zeigt auf das Gebäude gegenüber der Deutschen Bank und sagt: "Dort haben die Hamburger Kaufleute ihr Geld liegen, das sie nicht zu Hause halten wollen, und diese Keller liegen voll Gold- und Silbervorrat."

Davon kann Freud, der noch am Anfang seiner Karriere steht, nur träumen: "Mir wurde schwül; bis auf das Schuldigsein verstehe ich so gar nichts vom Bankwesen." Sein Erfolg sollte später groß sein, jetzt ging es auch darum, eine Familie zu gründen. Die Braut hatte Freud schon gefunden. Heiraten sollte er sie, nach langen Jahren des Getrenntseins, erst 1886. Im Wandsbeker Rathaus an der Königstraße; danach ging es auf Hochzeitsreise nach Lübeck und Travemünde. Und dann nach Wien.