Der junge Dirigent Yoel Gamzou sieht sich als Priester im Dienste seines Meisters

Laeiszhalle. Frühvollendet. Das Wort kann einen Künstler erledigen. Denn es bedeutet: Er hat schon mit 17 oder spätestens mit Anfang 20 alles gesagt. Jetzt wird er nur noch älter und sagt nichts Neues mehr. Auch mit diesem Höllenwort muss Yoel Gamzou auf den 5. September 2010 zugelebt haben, auf diesen Tag, den er zugleich ersehnt hat wie keinen zweiten in seinem Leben, den Tag, an dem seine sieben Jahre währende Arbeit an einer maßlosen Aufgabe zu ihrem vorläufigen Ende kommen würde. Vergeude deine Jugend? Wenn, dann richtig. Seit er 16 war, folgte Yoel Gamzou beharrlich dieser einen Mission: die 10. Sinfonie von Gustav Mahler zu vollenden.

Von diesem Werk ist nahezu fertig nur das Adagio überliefert - für die anderen Sätze fand man nur Skizzen und Entwürfe. Yoel Gamzou, Jahrgang 1987, ist von Kindesbeinen an von der Musik Mahlers besessen in einer Totalität, die einem eher bei Schachgenies oder Supersonderspezialbegabungen in der Mathematik begegnet.

Nicht als erster Nachgeborener, aber doch mit einem keinem seiner Vorgänger vergleichbaren Sendungsbewusstsein hat Gamzou aus allen ihm zur Verfügung stehenden Mahler-Quellen Takt für Takt die gedachte Sinfonie im Geiste seines Idols rekonstruiert. Danach studierte er die Partitur mit dem 2006 von ihm gegründeten und geleiteten International Mahler Orchestra ein. Und an jenem bewussten Sonntag im vergangenen September - mit Sinn für Präzision auf den Tag genau 100 Jahre, nachdem Mahler letztmals Noten des unvollendeten Werks zu Papier gebracht hatte - fand in Berlin die Uraufführung statt. Lob und Anerkennung von sachkundigsten Stellen waren einhellig. Gamzou dankte für die Blumen. Doch falls man je vergessen haben sollte, von welchem Verb sich Kunst herleitet, Gamzou bringt es einem mit jeder Faser seines Wesens wieder in Erinnerung: Kunst kommt von Müssen. Er hätte nicht anders gekonnt. "Ich hab's für Mahler getan."

Nach der Uraufführung fiel Yoel Gamzou also in genau das riesige Loch, auf das er sich sehenden Auges sieben Jahre lang zubewegt hatte. Er steckt immer noch darin, auch wenn äußerlich für ihn nach dem 5. September 2010 professionell alles erfolgreich weiterging. Ende des Jahres ist eine Tournee mit dem Stück geplant, an dem er nun hängt wie eine Mutterglucke an ihrem Kind. Er kann es nicht loslassen, noch lange nicht. Kein anderer Dirigent soll seine Zehnte Mahler spielen, auch kein anderes Orchester. "Die Interpretation ist für mich untrennbar vom Notentext", sagt Gamzou entschuldigend. "Das Stück muss noch ein bisschen leben, ehe es rausgeht."

Wenn Gamzou über seine innere Verbindung zu Gustav Mahler spricht, dann ist es, als habe er sich ab einem bestimmten Punkt eine halbwegs unverfängliche Sprachregelung auferlegt. Parallelen in ihrer beider Leben nennt er "erstaunlich", Aufführungen "schön, wenn sein Geist da ist, wenn er zurücklächelt". Er sagt: "Ich bin da, um Mahler zu dienen. Wie ein Priester, der die Botschaft weitergeben will." Buddhisten finden ihren neuen geistlichen Führer nach dem Tod des bisherigen irgendwann als Reinkarnation irgendwo auf der Welt. Ist Yoel Gamzou gar die Wiedergeburt des Gustav Mahler? Alle Fallgitter gehen zu, wenn man das von ihm wissen will. Nie sollst du mich befragen.

Wer Yoel Gamzou heute Abend auf dem Dirigentenpult in seiner wilden, etwas verspannten Körpersprache vor den Hamburger Symphonikern beim "Jerusalem"-Konzert explodieren sieht, erlebt einen Künstler, der trotz seiner 24 Jahre schon vieles weiß über höchstes Glück und tiefste Leere und wie nah die beiden einander sind. Das Repertoire ist überwiegend neu für ihn - Messiaens "Couleurs de la cité céleste" liegen ihm eher fern.

Dafür hält der junge Dirigent, der in seiner künstlerischen Unorthodoxie und Dringlichkeit manche an den frühen Simon Rattle oder an Gustavo Dudamel erinnert, die allergrößten Stücke auf den Komponisten Elmar Lampson, in Hamburg weit besser bekannt als Präsident der Hochschule für Musik und Theater: "Der spielt da den Administrator, und keiner weiß, was für ein Genie das ist!", ereifert sich Gamzou. Die dritte Sinfonie, die heute uraufgeführt wird, begeistert ihn dermaßen, dass er bei Lampson gleich zwei weitere Werke in Auftrag gegeben hat: die nächste Sinfonie und ein Violinkonzert.

Hamburger Symphoniker und Yoel Gamzou: "Jerusalem" heute, 19.30 Laeiszhalle ( Gänsemarkt) Johannes-Brahms-Platz, Tickets zu 8,- bis 42,- (zzgl. Vvk.-Geb.) unter T. 44 02 98 oder 45 33 26