Im Völkerkundemuseum ist derzeit eine Reihenhaus-Ausstellung zu sehen, in der auch ein Foto meiner Familie hängt. Denn auch ich bin in einer Reihenhaussiedlung groß geworden und glaube, dass es mich geprägt hat. Nirgendwo sonst muss man sich derart anstrengen, ein Individuum zu werden, denn nirgendwo sonst bedeutet gleich gleich gleich.

Unsere Siedlung bestand aus 50 Reihenhäusern, die in parallelen Reihen zueinander standen. Alle Häuser sahen exakt gleich aus, und war man in einem davon zu Besuch, so fand man sich sofort darin zurecht, denn alles war an dengleichen Stellen wie bei uns.

Es gab kaum Orientierung: Die Nummern auf den Gullydeckeln waren unterschiedlich, aus zwei Reihen sah man den Kirchturm. Neu Hinzugezogene sah man in den Anfangsjahren oft zwischen den Reihen herumirren, und es gab sogar Gerüchte, dass einige bei Fremden lebten, ohne es je bemerkt zu haben.

Außerhalb des Viertels wurde man oft für jemand anderen gehalten, und auch ich habe mich als Kind an wildfremde Frauen geschmiegt, weil ich dachte, sie wären meine Mutter. Sah Jahre später meine Freundin in den Armen des Jungen von gegenüber - glücklich sah sie aus.

Bewusst wurde mir unsere identische Identität erst beim Bombenalarm, als wir alle aus den Häusern mussten, um uns in einer nahe gelegenen Turnhalle zu versammeln. Die Verwirrung muss ähnlich der beim Turmbau zu Babel gewesen sein - viele Familien haben sich nie wiedergefunden, denn niemand wusste mehr, wer wer war.

Es war der Tag, an dem ich mir Kleidung aus Müll nähte. Mir das Spinnennetz auf die Stirn tätowierte. Stücke meines Haares wegrasierte, dass es aussah wie eine vergessene Milchmahlzeit. Kurzum - mich bemühte, anders zu sein. Mit Individualität hatte das zwar auch das nicht viel zu tun, aber zumindest erkannte ich mich wieder.