Der Film “Alles, was wir geben mussten“ handelt von humanoiden Organspendern, umschifft aber radikal alle Klischees. Ab heute im Kino.

Ruth, Kathy und Tommy sind Schüler in einem dieser englischen Internate, bei denen man nie so genau weiß, in welchem Jahrzehnt man sich befindet. Ein großer, grauer Kasten von Landsitz mit ein paar Spritzern stumpfen Grüns und Blaus und mit Charlotte Rampling als Schulleiterin, deren Vorstellungen von Disziplin aus Queen Victorias Zeiten zu stammen scheinen. Doch dann verortet der Austausch von Musikkassetten die Handlung in die Siebziger.

Die Kassetten bringt ein Mann ins Haus, der ein paarmal im Jahr mit Geschenkkörben in dem Internat auftaucht. Besuch von Eltern oder Semesterferien scheint es nicht zu geben. Merkwürdig.

Noch merkwürdiger ist, dass die Lehrer ihren Schutzbefohlenen einschärfen, bloß nicht das eingezäunte Gelände zu verlassen; draußen drohten tödliche Gefahren. Dabei steht kein Atomkraftwerk in der Nähe.

Der Film "Alles, was wir geben mussten" beruht auf dem gleichnamigen Roman des Japaners Kazuo Ishiguro. Das Buch lässt sich ungefähr bis zur Mitte Zeit, um das dunkle Geheimnis von Hailsham zu enthüllen. Mark Romaneks Verfilmung streut die Indizien von Anfang an so, dass der Zuschauer darüber stolpern muss. Eine Texteinblendung informiert ihn, dass Fortschritte in der Medizin die Lebenserwartung auf 100 Jahre haben schnellen lassen. Dann verkündet Charlotte Rampling der Schulversammlung mit strenger Stimme, Kippen seien gefunden worden, und erinnert alle Zöglinge an ihre erste Pflicht: Erhaltet eure Gesundheit! Wenn dann noch ein paarmal das Wort "Spende" gefallen ist, zählt der Zuschauer zwei und zwei zusammen: Diese jungen Menschen werden für den einzigen Zweck aufgepäppelt, um als potenter Nachschub für Organspenden zu dienen.

Eigentlich haben wir es also mit einem Science-Fiction-Film zu tun, aber mit einem, dem alle Spezialeffekte ausgetrieben wurden und der sich - sobald die drei Kinder erwachsen sind - zu einem veritablen Tränendrücker in der britischen Merchant/Ivory-Herrenhaus-Tradition entwickelt; auch das Butler-Drama "Was vom Tage übrig blieb" fällt einem ein, es stammte von Kazuo Ishiguro.

Das ist zunächst eine fabelhafte Idee, von dem Horror einer Gesellschaft, die sich offenbar darauf geeinigt hat, Menschenklone als Ersatzteillager zu züchten, in ganz leisen Tönen zu erzählen. Es ist ja nicht so, dass eine verrückte Wissenschaftlerin namens Dr. Ramplingstein in aller Heimlichkeit schreckliche Experimente vollführen würde. Alles ist offiziell sanktioniert, das abgeschiedene Internat, das langsame Auswildern der Jungerwachsenen und ihre schließliche Eingliederung in die reale Welt.

Der Schrecken liegt in der beiläufigen Selbstverständlichkeit, mit der alle - die Kinder selbst, ihre Erzieher, die Welt da draußen - dieses Menschsein auf Abruf komplett akzeptieren. Eigentlich geht es Ruth, Kathy und Tommy gut. Ihre Kindheit in Hailsham ist schließlich eine glückliche. Sie müssen ihren Lebensunterhalt nicht verdienen und entwickeln sich wie ganz normale Teenager. Die stille Kathy verliebt sich in Tommy, die schrille Ruth schnappt ihn ihr weg, und Tommy ist zu schüchtern, um mit Ruth zu brechen und um Kathy zu werben. Es geht bei den Klonen zu wie bei den Echten.

Das Bemerkenswerte an "Alles, was wir geben mussten" ist, wie radikal er alle Klischees der Horror- und Science-Fiction-Genres umschifft. Irgendwann jedoch beginnt sich dieser stille Horror beim Zuschauer in ein stilles Wundern zu verwandeln. Der Zahn des Zweifels fängt an zu nagen, wenn die drei Erwachsenen (inzwischen gespielt von Carey Mulligan, Andrew Garfield und Keira Knightley) in einem Cottage daran gewöhnt werden, ein selbstverantwortliches Leben zu führen. Sie sind nicht mehr eingesperrt. Sie erkunden die benachbarte Stadt. Sie bestellen zum ersten Mal in einem Café etwas zum Trinken. Das seltsame Armband, das ihren Aufenthaltsort verrät, könnten sie abstreifen.

Doch Kathy, Ruth und Tommy tun nichts, um sich ihrem traurigen Schicksal entgegenzustemmen. Sie lassen sich erst ein Organ entnehmen, dann das zweite und wissen, dass die dritte Operation kaum einer überlebt. Sie haben dann "vollendet", wie es in der euphemistischen Sprache heißt, die man ihnen beibrachte. Ihr Wertesystem ist darauf ausgerichtet, wie sehr sie sich ausnehmen lassen. Man muss nicht weit über den Ishiguro-Tellerrand hinausdenken, um die Parabel auf unsere Gesellschaft zu erkennen, die schon junge Kinder in Nützlichkeitskategorien dividiert und dann indoktriniert, früher in Napolas, heute in Elite-Unis und Business Schools. Aber es gibt immer noch so etwas wie den freien Willen. "Was ist los mit euch?", möchte man Kathy, Ruth und Tommy zurufen; je länger der Film dauert, desto häufiger und lauter. "Warum lasst ihr euch ausschlachten? Ihr könnt untertauchen! Keiner wird euch finden."

Das ist ein gefährlicher Gedanke, für die Figuren, aber auch für den Film selbst. Mark Romanek tut alles, damit er nicht aufkommt, dämpft die Farben, die Musik, die Affekte. Denn er weiß, dass das Bild eines Films immer konkreter empfunden wird als das Wort eines Buches. Sobald die drei sich hinaus ins normale Leben wagen, wird dieser Gedanke jedoch unvermeidlich. Und ist er einmal gepflanzt, zersetzt er den Film, der bis zum Schluss so tut, als sei sein Gang der Dinge alternativlos.

Dann wird einem klar, dass das gesellschaftliche Umfeld eigentlich viel interessanter ist als die Charaktere, aber Romanek bleibt eng bei den Hauptfiguren, weil er weiß, dass seine Geschichte zerbröseln würde, ließe er zu viel Umfeld herein. So schreiten seine Helden wie lebende Tote in ihre Vollendung, die melancholischsten, taktvollsten und bedauernswertesten Zombies, die die Leinwand jemals sah.

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