Ein halbes Jahrhundert lang hat Sidney Lumet den US-Justizfilm geprägt. Sein Kinodebüt “Die zwölf Geschworenen“ machte ihn berühmt.

Noch während des Vorspanns betreten die Geschworenen den Raum. Sie beschäftigen sich mit ihrer Garderobe oder der Tageszeitung. Nur einer geht nahezu unbemerkt zum Fenster, zündet sich eine Zigarette an, schaut hinaus. Hier, in Sidney Lumets Kinodebüt "Die zwölf Geschworenen" aus dem Jahr 1957, schweift die Kamera in einer über sechs Minuten langen, ungeschnittenen Fahrt durch den Raum und nähert sich diesem Geschworenen Nr. 8, von hinten, blickt ihm über die Schulter, hinaus auf die Stadt. Wir sehen nicht sein Gesicht, wir sehen, dass er denkt. Spätestens jetzt wissen auch wir, was die Kamera schon längst wusste: Dieser Mann, gespielt von Henry Fonda, macht den Unterschied. In diesem Fall, in diesem Film, in der Karriere seines Regisseurs, in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit.

"Die zwölf Geschworen" erzählt von einem Urteil, das eigentlich schon zu Beginn gefällt ist. Elf Geschworene sind bereit, den Angeklagten sofort auf den elektrischen Stuhl zu schicken. Nr. 8 will erst mal reden. Warum? Die Antwort ist so vage, dass sich selbst die deutsche Synchronisation in "Ich glaube, es ist eine Gefühlssache" hineinrettet. Tatsächlich sagt Fonda "maybe no reason" - möglicherweise gibt es gar keinen Grund. Aber von diesem Punkt an schreibt das US-Gesetz, das von seinen Geschworenen ein einstimmiges Urteil erwartet, eine Auseinandersetzung vor. Und der Film, den wir sehen, ein Kammerspiel in nüchternem Schwarz-Weiß, wird zu einer Hymne auf das, was Kleist die "allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" nannte. Aus dem Fenster schauen. Denken. Reden. Denken durchs Reden. Am Ende steht der Freispruch. Eine Sternstunde der Zivilisation.

Sidney Lumet wurde für diesen Film 1957 auf der Berlinale ausgezeichnet, im frisch eröffneten Zoo-Palast. Er hat seinen Goldenen Bären damals nicht persönlich entgegengenommen. Der Schauspielersohn jüdisch-polnischer Abstammung war einige Jahre zuvor als Soldat in Berlin gewesen, zu deprimierend habe die zerstörte Stadt auf ihn gewirkt. Daheim, in New York, wurde "Die zwölf Geschworenen" zum Auftakt einer bemerkenswerten, über fünf Jahrzehnte nahezu konstant produktiven Laufbahn, die kein Spektakel um sich machte.

Von seinen etlichen Nominierungen blieb Lumet schließlich nur der Ehren-Oscar. Aber immer wieder gelang ihm meisterliche Brillanz. Von "Serpico" (1973) mit Al Pacino bis zu "Tödliche Entscheidung - Before the Devil Knows You're Dead" (2007) mit Ethan Hawke und Philip Seymour Hoffman zählen seine Filme zu den Klassikern des Polizeidramas.

Aber auch jenseits von Tatorten und Gerichtssälen kann man in Lumets Arbeit immer wieder Schätze entdecken. 1968 legte er mit "Bye Bye Braverman" eine jüdische Beerdigungskomödie vor, 1978 entstand mit "The Wiz" ein vergnügtes Filmmusical nach "Der Zauberer von Oz", mit Diana Ross als Dorothy und niemand anderem als Michael Jackson in der Rolle der Vogelscheuche. 1995 erschien sein Buch "Filme machen". Eines der lehrreichsten und unterhaltsamsten seiner Art.

1924 in Philadelphia, Pennsylvania geboren, verdiente sich Sidney Lumet zunächst seine Sporen am Off-Broadway-Theater und als Regisseur von TV-Serien. Mit "Die zwölf Geschworenen" wurde er zu einem der prägendsten Vertreter jener Zwischengeneration von Regisseuren, die spät genug geboren wurden, um bereits als Kinder mit dem Kino-Virus infiziert zu werden, und zu früh, um mit der Naturgewalt des Rock 'n' Roll aufzuwachsen. Stattdessen erlebten sie als junge Erwachsene den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen. Samuel Fuller gehört zu ihnen, Robert Altman und Stanley Kubrick.

Sidney Lumet war einer der letzten dieser großen alten, neugierigen, genialen Männer. Er ist am Sonnabend im Alter von 86 Jahren in seiner Wohnung in New York gestorben.