Der “Psychogeograf“ Christian von Borries belädt die MS “Bleichen“ Sonnabend und Sonntag mit Gedanken zur Globalisierung.

Hamburg. Vielleicht ist das Ganze ja wie diese Angelegenheit mit dem Schmetterlingsflügelschlag und dem Wirbelsturm: Irgendwo passiert etwas Kleines, irgendwo anders passiert später deswegen etwas ganz anderes, viel Größeres. Und keiner weiß so richtig, wie beides miteinander zusammenhängt. Dafür haben aber alle ein leicht mulmiges Gefühl im Bauch.

Über die Globalisierung der Wirtschaft nachzudenken kann, wenn man nicht aufpasst, auch ganz schnell ins Verschwörungsfantasieren abrutschen. Sicher ist für Christian von Borries dabei offenbar nur, dass ganz vieles überhaupt nicht sicher ist. Und noch viel weniger vernünftig.

Dass der Berliner Künstler überhaupt kein ordentlicher Fachmann für das Thema ist, sondern Do-it-yourself-Interessent, macht die Angelegenheit nicht schlimmer, denn schließlich standen ja auch hauptberuflichere Experten in aller Welt blamiert da, als nach dem Lehman-Kollaps die Krise losbrach und guter Rat teuer war. "Den Wirtschaftsteil von Zeitungen verstehe ich nur teilweise", sagt von Borries deswegen ohne einen Hauch von Ironie. "Es scheint aber auch ein irrationales Geschäft zu sein. So viel habe ich verstanden." Und: "Der Wirtschaftsjournalismus ist embedded, das ist total klar."

Von Borries nennt seine Arbeitsmethode "Psychogeografie", er nutzt Räume, um mithilfe von Musik gesellschaftliche Erkenntnisgewinne über die Wahl der jeweiligen Veranstaltungsorte zu provozieren. So hat er 2003 die Ruine des Berliner Palasts der Republik als Kommentar zur Frage nach dem Deutschen im Deutschen mit Wagner beschallt.

In dieser Woche ist der Laderaum des Stückgutfrachters MS "Bleichen" als Diskussions-Startrampe dran. Als Berliner Weggefährte von Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard nutzte er die Chance für dieses Gastspiel auf der Hamburger Veddel gern, die beiden hatten lange nach einer passenden Gelegenheit gesucht, auch in Hamburg aktiv zu werden.

Seine "Global Design"-Abende sollen mit einer Mischung aus Texten, Filmen aus neu entstandenen Nationalstaaten und Musik-Verfremdungen aus diversen Himmelsrichtungen den Horizont des Publikums erweitern. Es dozieren der Schweizer Ökonom Gian Trepp und der chinesische Soziologe und Historiker Wang Hui. Nicht nur die Sprecher sprechen, auch die anwesenden Orchestermusiker haben, wie der Chor im antiken Drama, einiges mitzureden. "Ganz viel Musik ist sehr bekannt, aber die Art und Weise, wie sie gespielt wird, hat so noch nie jemand gehört." Bei bewusst unscharf gehaltenen Fotos muss sich der Betrachter ja auch Gedanken machen über den Abstand zwischen dem Bekannten und dem, was davon noch vorhanden ist.

Verfremden und vermischen von Klassik-Standards ist seine Spezialität, Notentreue bis in letzte Detail hält er für überschätzt und im Copy-and-Paste-Zeitalter für gründlich überholt. "Das Repertoire ist wie ein Riesensteinbruch, bei dem ich gucke, was ich daraus machen kann. Es geht nicht darum, mit der Urtextausgabe eines Stücks in Kloster zu gehen. Das interessiert mich null, das finde ich lächerlich, ehrlich gesagt."

Vielleicht gelingt das Verwirrspiel mit Perspektiven, Partituren und Theorie-Vermutungen auch, indem die systemkritische Kompassnadel des Publikums erst einmal gründlich aus seiner Justierung gestoßen wird. "Die gut gestellte Frage ist wichtiger als so eine schlau daherkommende Antwort. Das Missverständnis stark zu machen, ist eine Hoffnung dieser Veranstaltung", beschreibt von Borries seine Absicht, und legt freundlich lächelnd nach: "Wenn man alle Abende gesehen hat, wird man gegenüber der medialen Erklärung der Welt nicht nur skeptisch, sondern auch kämpferisch sein. Im Idealfall kommt das Publikum verwirrter raus, als es reingegangen ist."

Durch die reale Krise hat von Borries gemerkt, dass er mit seiner Neugierde nach den Gründen und Abgründen der Weltwirtschaft auf dem richtigen Dampfer war. "Das muss man global denken", doziert er bei einem Kaffee in einer Kabine der MS "Bleichen". "Wenn man nationalstaatlich denkt, wird man immer zu kurz kommen. Das ist eine Riesengrauzone, dereguliert ist überhaupt kein Ausdruck", redet er sich in leichte Rage. "Das globale Handelsgeschäft ist aber nicht nur dereguliert, da gibt's überhaupt keine Regulierung. Freihäfen sind im Prinzip moderne Hansestädte, Piratennester."

Früher war Borries ein ganz normaler klassischer Musiker, Solo-Flötist am Opernhaus in Zürich. Ein anonymer Frackträger unter vielen. Als ihm das Reproduzieren und Gehorchen nicht mehr genügte, wurde er neugierig aufs Dirigieren. Und als er in New York einen Termin mit Kurt Masur hatte, der beim Thema Traditionspflege bekanntlich sehr traditionell eingestellt ist, warf der ihn hochkant raus. Eine Episode, die von Borries heute nicht mehr wichtig ist, aber eine Menge über sein Selbstverständnis als chronischer Fragensteller erzählt.

Musik ist nun mal ein ganz besonderes Stück-Gut. Eine Ware, die viel über Käufer und Verkäufer aussagt. Und wo wir schon mal in Sichtweite der größten und umstrittensten Kultur-Baustelle der Stadt sind: Bei der Elbphilharmonie hat die Kultur für von Borries eine ganz spezielle Funktion, "die von Klassik Radio, um es hart zu sagen. Das bedeutet: beruhigt euch, beruhigt euch. Bitte beruhigt euch. Dreht nicht durch. Es gibt aber natürlich Grund genug, durchzudrehen."

Der konventionelle Klassik-Betrieb, das sei für ihn, "wie wenn ich in eine Antikensammlung gehe. Es gibt auch ein eher älteres Publikum, das das will. Aber da sind wir wieder bei dem Punkt: beruhigt euch."

Und als Nächstes? Da plant Christian von Borries einen Film über Demokratie. Kleiner hat er es offenbar nicht. "Na, ich will schon wissen, wie's funktioniert."

Global Design 9.4., 20.00, 10.4., 17.00, MS "Bleichen" (Veddeler Damm, 50er-Schuppen im Hansahafen), 17,- (8,- erm.) inkl. Bootsshuttle. Jeweils eine Stunde vor Vorstellungsbeginn fährt ein Shuttle-Boot vom HVV-Anleger Sandtorkai zur MS "Bleichen" und nach der Veranstaltung zurück.