Die Barockmusiker vom Ensemble Lyriarte und Moderne-Spezialist Irvine Arditti treffen sich zum Rollentausch beim alten Werk des NDR

Liebermann-Studio. Barockgeiger trifft Avantgardespezialisten: Was wollen die zwei bloß miteinander? Sie wollen spielen. Der Geiger Irvine Arditti, eine Ikone der zeitgenössischen Musik, und das viel gepriesene Barockensemble Lyriarte, angeführt von dem Geiger Rüdiger Lotter, geben zusammen ein besonderes Konzert. Und was für ein besonderes: Die beiden tauschen mal eben die Rollen, der Barockfuzzi spielt Werke des späten 20. Jahrhunderts von Luciano Berio und Brian Ferneyhough. Umgekehrt nimmt es Arditti mit dem Komponisten und Geigenvirtuosen Heinrich Ignaz Franz Biber auf, einem Star des 17. Jahrhunderts.

Was auf den ersten Blick neckisch wirkt oder gar widersprüchlich, dem wohnt auf zweites Hinsehen eine profunde künstlerische Überzeugung inne: Alle Musik müsse so gespielt werden, als erklänge sie zum ersten Mal.

Formuliert hat dieses Postulat Nikolaus Harnoncourt, der Doyen der historischen Aufführungspraxis. Es steht gleichsam als ungeschriebenes Motto über dem Konzert mit Lyriarte und Irvine Arditti heute Abend im Rolf-Liebermann-Studio: Die beiden stellen sich spieltechnischen und interpretatorischen Herausforderungen jenseits ihres angestammten Arbeitsfeldes. Und die könnten verschiedener kaum sein. Für Bibers hoch virtuose Parts braucht es Geläufigkeit in den unteren Lagen und eine immense Geschicklichkeit des Bogens, um mühelos mehrstimmig zu spielen und die vielen Verzierungsgirlanden zum Funkeln zu bringen. Damit die Stücke "sprechen", muss man jeden Ton einzeln formen und sich entwickeln lassen - jeden anders.

Die Musik des 20. Jahrhunderts verlangt andere Tugenden von einem Geiger. Da gilt es, vertrackte, ständig wechselnde Rhythmen mit Leben zu füllen und dem Instrument Spezialeffekte abzutricksen, die sich kein Geigenbauer des 17. oder auch 19. Jahrhunderts hätte träumen lassen. Man kann aufs Holz klopfen, über die Saiten wischen oder im Wirbelkasten zupfen, man kann die Saiten an den verschiedensten Stellen streichen und erhält jedes Mal einen anderen Klang - oft einen, der überhaupt nicht an Geige denken lässt. Wie sonst Irvine und seine Kollegen von der Neue-Musik-Fraktion wird Lotter in absurden Tonabständen in den höchsten Höhen herumturnen.

Herzstück, Dreh- und Angelpunkt des Konzerts ist Johann Sebastian Bachs berühmte Ciaccona aus der d-Moll-Partita. Wie ein Solitär ragt sie aus dem Bach'schen Zyklus von Werken für Solo-Violine hervor und entzieht sich - was ihre Dichte und gedankliche Komplexität betrifft - absolut jeder Kategorisierung. Gemeinsam spielen Arditti und Lotter Altes und Neues: Sie eröffnen den Abend mit zwei "Partia" überschriebenen Werken von Biber und schließen mit "Rocking Mirror Daybreak" von Toru Takemitsu aus dem Jahre 1983.

Die beiden sind übrigens nicht die Einzigen, die den Brückenschlag über die Jahrhunderte wagen. Gerade unter den Originalklangspezialisten finden sich zahlreiche Musiker, die sich mit demselben Ernst heutiger Musik widmen. Zur Barockzeit gab es nämlich, wenn man so will, erheblich mehr Avantgarde als heute: Fast jedes Stück wurde für einen bestimmten Anlass komponiert, einmal gespielt und dann zur Seite gelegt. Über eine fremde Harmonie oder eine ungewohnte Anzahl Takte bei einem musikalischen Thema konnten damalige Hörer genauso erschrecken wie unsereins heute, wenn unerwartet eine E-Gitarre aus dem Lautsprecher dröhnt. Das Publikum hörte also tatsächlich ständig neue Musik. Das berühmte erste Mal, es entfaltet seinen Zauber seit Jahrhunderten. Auch musikalisch.

Lyriarte & Irvine Arditti heute 20.00, Rolf-Liebermann-Studio (U Hallerstraße), Oberstraße 120, Karten zu 17,60 unter T. 0180/178 79 80; www.ndr.de/dasaltewerk