Gibt es einen Bedeutungswandel im modernen Theater? Darüber sprechen heute der Kritiker Peter Iden und Regisseur Jürgen Flimm

Hamburg. Ärgern Sie sich gelegentlich über Regieeinfälle im Theater? Das ist legitim. Der Theaterkritiker Peter Iden hat nun ein Buch geschrieben, "Der verbrannte Schmetterling" heißt es und ist eine persönliche Geschichte des deutschen Nachkriegstheaters. Liebe und Leidenschaft für das Theater spielen dabei ebenso entscheidende Rollen wie Frust, Missverständnisse und Ablehnung.

Man kann darin wunderbar verfolgen, welche Bedeutung das Theater bis vor wenigen Jahren noch hatte. Wie sich das Menschenbild auf der Bühne verändert hat, wann und warum mal künstlerischer Realismus vorherrschte, mal Protest, Politik oder Provokation. Und wie sich die gesellschaftliche Bedeutung des Theaters geändert hat. Im Gespräch mit dem ehemaligen Thalia-Intendanten Jürgen Flimm unterhält sich Iden über Maßstäbe, Macht und Ohnmacht des Theaters. Heute Abend kann man beiden dabei zuhören.

Viel stärker als vor 25 Jahren steht das Theater heute in Konkurrenz zu anderen Events, glaubt Peter Iden. Das sei sicher einer der Gründe für dessen Bedeutungsverlust. "In so einer Situation kann das Theater die Tiefe, die es ursprünglich beansprucht hat, gar nicht mehr leisten", glaubt er. Als auffälligste Veränderung, die sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten im Theater abgespielt hat, benennt Regisseur und Intendant Jürgen Flimm ganz klar "das Mitleidstheater, das im Zuge der deutschen Wiedervereinigung zu Ende gegangen ist". Was heißt das?

Flimm meint damit das Mitleiden mit den Figuren auf der Bühne, den Aufruf zum solidarischen Handeln, der mit der Inszenierung einhergeht. Und das Versprechen, dass der Mensch "durch allgemein vernünftigen Umgang miteinander" erlöst werden könne. Diese Botschaft hat Jahrzehntelang das Theater der Bundesrepublik getragen. Mit der Wiedervereinigung kam dann Wut, Nihilismus und eine ablehnende Haltung gegenüber allem von oben Verordneten auf die Bühnen. Peter Iden ergänzt: "Das Theater basiert auf einem humanistischen Programm der Aufklärung. Es hat die Studentenbewegung mit hervorgebracht und die Gesellschaft daran erinnert, was sie vergessen hat, also eine politisch-aufklärerische Wirkung gehabt. Das ist vorbei, seit der ideologische Gegenpart fehlt."

Für falsch hält es Iden, mit "vordergründigen Ideen und willkürlichen Einfällen" Aktualität zu suggerieren. Viel zu selten sieht man "die Durchdringung einer Rolle, die Verwandlung". Man sollte erkennen, was uns vergangene Kulturen zeigen können, was Sprache und Erinnerungen bedeuten, was Menschen schon immer beschäftigt hat, glaubt er. "Man gibt sich nicht mehr so viel Mühe, einer Sache auf den Grund zu gehen", behauptet er. "Dadurch geht einiges verloren."

Junge Regisseure wollen heute oft tolle Inszenierungen machen, aber sie haben nicht mehr "diesen moralischen Anspruch, den wir gerne vor uns hergetragen haben", ergänzt Jürgen Flimm. "Sie nehmen sich Teilaspekte vor, sind nicht an der Darstellung des Ganzen oder der Spurensuche interessiert." Das kommt manch einem Zuschauer dann wie Zertrümmerung vor. Dennoch findet er die jungen Regisseure "ziemlich aufregend. Das Theater wird bei denen entliterarisiert und bekommt damit mehr Kraft durch die Schauspieler und Regisseure." Allerdings möchte er "nicht immer nur die Abbildung der Gegenwart sehen", sagt Peter Iden. "Wir wollen doch auch danach fragen, welche kritische Wirkung auf die Gesellschaft das Theater haben kann." Einig sind sich beide darin, dass man neugierig bleiben muss, wenn man weiterhin Spaß, Anregung und Aufregung mit dem Theater verbinden will. Na also.

Peter Iden und Jürgen Flimm sprechen über das Theater, heute, 20 Uhr, St.-Pauli-Theater

Peter Iden: "Der verbrannte Schmetterling - Wege des Theaters in die Wirklichkeit", eva, 432 Seiten, 34 Euro