In seinem poetischen Debüt “Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe“ erzählt Max Scharnigg eine eigenartige Liebesgeschichte.

Man hört schon die allfälligen Spötter, die reflexartig vieles von dem, was von jungen Autoren stammt, als Schreibseminar-Prosa deklarieren. Ach Gottchen. Sollte tatsächlich jedes Kunstwerk, das perfekt gebaut ist, dessen Komposition kunstvoll ist, den Vorwurf der schnöden Regelhaftigkeit ertragen müssen? Nein, sollte es nicht. Deshalb ist festzuhalten: Max Scharnigg, 30, legt dieser Tage mit "Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe" ein vorzügliches Debüt vor.

Das fängt beim Titel an, er macht in seiner widersprüchlichen Behauptung neugierig - wie kann man denn etwas, und dann auch noch die Eiger-Nordwand, unter einer Treppe besteigen? Diese Kunst, den Leser einzunehmen, erschöpft sich aber nicht in der Titelgebung. Das ganze, knapp 140 Seite lange Büchlein ist wunderbar gelungen und erscheint wahlweise wie eine perfekt gegossene Skulptur oder eine formvollendet komponierte Sonate.

Genug der schmeichelnden Worte, zum Inhalt: Als der Journalist Nikol Nanz an einem ganz normalen Arbeitstag nach Hause kommt, findet er vor seiner Haustür grüne Herrenschuhe, es sind nicht seine. Dabei wartet doch zu Hause immer, jeden Abend aufs Neue, die Freundin, M. genannt. Diesmal aber hat sie einen Gast, der Erzähler hört eine männliche Stimme und geht stiften. Darf man das überhaupt so sagen? Geht er wirklich "stiften", der feinfühlige Erzähler? Nee, viel zu salopp formuliert. Sagen wir so: Er zieht sich vorsichtig zurück und macht es sich unter der Treppe bequem. Dort, wo die Briefkästen hängen und die Kinderwagen stehen. Dort bleibt er, versteckt im stillen Winkel des Hauses. Einen Grund dafür gibt es natürlich nicht; und irgendwie wirkt der Eskapismus des Erzählers sofort bedrohlich und unheimlich, geradezu kafkaesk. Obwohl doch nur Schuhe vor der eigenen Wohnung stehen, die da nicht hingehören.

Er bleibt da einfach sitzen, unter der Treppe. Schläft, isst nicht, denkt über sein Schreibprojekt nach: Er will einen Artikel über die erstmalige Besteigung der Eiger-Nordwand schreiben. Das klingt reichlich seltsam und ist es auch. Jedenfalls ist die Romanhandlung einigermaßen bizarr, sie klingt so unwahrscheinlich wie nur irgendeine. Natürlich will man wissen, was oben los ist in der Wohnung, wer da in Herrgottsnamen zu Besuch ist, der nicht zu Besuch sein sollte.

Aber man liest Scharniggs Buch eigentlich deswegen so gerne, weil man in dieser langsamen Geschichte, die sich die Zeit nimmt zum Beobachten und den Raum fürs Sentimentale (aber kaum Kitschige), Schritt für Schritt nachvollzieht, wie hier erzählt wird. Nämlich parabelhaft. "Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe" ist ein Buch über das Schreiben; so, wie man den Berg bezwingen muss, muss man auch das leere Papier bezwingen. Oder die Geschichte, die aus einem herauswill.

Er verspürt zunächst keinen Hunger, dieser unter der Treppe ausharrende Nikol Nanz, ist dann aber doch froh, als er von einem alten Herrn mit vorzüglichen Umgangsformen allen Hausbewohnern gegenüber ("Darf ich die Frage retournieren, Gnädigste?") entdeckt wird. Er ist der sonst nie gesehene Mieter namens Schmuskatz aus dem Erdgeschoss. Österreicher, einst Gletscher-Fotograf. Er sammelt und sortiert Bücher nach ihren Widmungen. Und er erzählt. Von der späteren Miss Universum, die immer nur Paprikahendl essen wollte, er war in sie verliebt. Und er isst auch immer nur Paprikahendl, der Metzger im Haus gibt sie ihm. Sie reichen dann zwei Tage. Seine Erzählungen halten länger, selbiges gilt für die des Nikol Nanz. Der ist ein hochromantisch Veranlagter mit schwieriger Freundin. Denn M. ist es, die wirklich von der Welt abgewandt ist. Eine (eingebildete) Kranke, ein liebesbedürftiges Wesen, das sich in sich selbst zurückzieht. Oder ist es Nikol Nanz, der sie vernachlässigt?

Eines Nachts, nach Unmengen von gut gefüllten Schnapsgläsern, wagen sie den Aufstieg, am gesicherten Seil führt Schmuskatz den jungen Mann zurück in seine Wohnung und sein altes Leben.

Scharniggs Debüt ist rätselhaft schön, poetisch. Alles ist verbunden mit allem in diesem großen kleinen Buch. Es geht um die Liebe, ums Schreiben, um Leben, um Weltangst. Es ist ein wunderbares Motivgeflecht, das Scharnigg durch die Geschichte zieht. Elegant ist seine Einarbeitung der realen Pioniertat von Anderl Heckmair und Ludwig "Wiggerl" Vörg, die im Juli 1938 in die Eiger-Nordwand einstiegen. Zusammen mit Heinrich Harrer und Fritz Kasparek, auf die sie unterwegs stießen, schafften sie den Durchstieg.

Scharnigg, im Hauptberuf Redakteur in der Jugendredaktion der "Süddeutschen Zeitung", ist auch dann gut, wenn es um die kleinen Beobachtungen geht. Sie geraten ihm zu poetischen Miniaturen: "Schmuskatz' Tür lehnte auf eine Art an, dass ein Fingerbreit Luft dazwischen spazieren gehen konnte."