Am Ufer des Rheins sprach der Sänger Wolfgang Niedecken über sterbende Dialekte, seinen Freund Horst Köhler und das böse Wort Betroffenheit.

Schaut Wolfgang Niedecken aus dem Fenster seines Arbeitszimmers kurz hinter der Südbrücke im Kölner Stadtteil Bayenthal, blickt er direkt auf das langsam und mächtig dahinströmende Wasser. Rheinkilometer 684. Die Kähne liegen tief an diesem verregneten Morgen, schaffen irgendetwas von hier nach dort. Ein beinahe trister Anblick. Doch die Verbindung zwischen dem Fluss und seinem prominenten Anlieger ist magisch. Vor sechs Jahrzehnten ein paar Hundert Meter weiter nördlich geboren, schafft es allein der Rhein, den Musiker sofort bei der Seele zu packen. Spielt Niedecken mit BAP in Rheinnähe, dann führt der erste Weg zu seinem treuen Gefährten und den großen weißen Schildern am Ufer, die die Rheinkilometer anzeigen: Basel 167, Mannheim 425, Loreley 555, Rotterdam 1000. "Und dann rechne ich aus, wie weit diese Stelle von der Marke 684 entfernt ist", sagt Niedecken. "Die Kölner reagieren wie Pawlowsche Hunde, wenn man sie bestimmten Reizen aussetzt." Bei ihm ist das der Rhein, egal, wo er gerade entlangfließt.

Enn Kölle am Rhing

benn ich jeboore

Ich hann, und dat litt mir em Senn -

Ming Muttersprooch

noch nit verloore

Dat ess jet, wo ich stolz drop benn.

Ein anständiger Domstädter weint bei diesen Zeilen, die Willi Ostermann noch vor dem Krieg textete. Wie eine Fanfare stehen sie vor dem ersten Kapitel der Autobiografie, die der Erfinder des Kölschrock rechtzeitig zu seinem 60. Geburtstag verfasst hat. Sie sind nicht bloß Liebeserklärung an die Heimat. Sie bergen auch das Erfolgsgeheimnis des Musikers Niedecken: Er hat nie die Muttersprache verloren.

Damit ist diesem inzwischen ergrauten Mann Unvergleichliches gelungen. Er platzierte ein vom Aussterben bedrohtes Kulturgut inmitten des musikalischen Mainstreams, etablierte den kölschen Dialekt seit inzwischen mehr als 35 Jahren in den gesamtdeutschen Hitparaden.

Rund acht Millionen BAP-Alben lagern in den Regalen und virtuellen Speichern der Republik. Ex-Bundespräsident Horst Köhler gehört zu Niedeckens größten Fans. Regisseur Wim Wenders adelte BAP mit einem Kinofilm. Und spielt der rheinische Erfolgsexport mal wieder auf der Reeperbahn vor ausverkauftem Haus "Verdamp lang her", das kompositorische Kronjuwel, zeigt sich, wie kölschsicher die Hamburger seit dem ersten Auftritt 1980 im Logo in der Grindelallee geworden sind.

"Grundsätzlich eignen sich alle Dialekte für musikalischen Erfolg", ist sich Niedecken sicher. "Aber man muss nicht wegleugnen, dass es sympathischere Dialekte gibt und unsympathischere. Kölsch singt sich sehr gut und ist dem Englischen sehr verwandt. Es ist eine sehr formbare Sprache."

Erst spät ist ihm aufgegangen, dass BAP auch deshalb jenseits des Rheinlands so erfolgreich werden konnte, weil man mit der Sprache auf Konfrontation zur Amtssprache ging. In einer politisch bewegten Zeit, in der mehr Deutsche in Bürgerinitiativen organisiert waren als in Parteien und der Gang auf die Straße eine Selbstverständlichkeit war, lag ein Hauch von Revolte in dem Slang. "Wir waren mit der Sprache natürlich glaubwürdig und galten als die Jungs, die singen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist", sagt Niedecken. Möglicherweise das gleiche Phänomen, unter dem heute der Erfolg von Rappern wie Bushido steht.

Nur ist der Getto-Talk jung, während Kölsch Jahrhunderte alt ist und gerade von der Globalisierung aufgefressen wird. "Ich fürchte, dass nicht mehr viele Generationen Kölsch sprechen werden, geschweige denn mit Kölsch als Muttersprache aufwachsen. Alle Dialekte werden auf Dauer verschwinden, doch BAP wird es nie auf Hochdeutsch geben. Das durchgehalten zu haben, darauf bin ich stolz. Denn die Verlockungen waren durchaus da."

Mit dem Durchbruch Anfang der 80er drohte der Boulevard die unschuldigen Jungs wegzureißen, die noch vor Kurzem als Hobbyband in einem Wiegehäuschen eines Kalksandsteinwerks unter Ausschluss der Öffentlichkeit geprobt hatten. BAP sei damals nie darauf ausgerichtet gewesen, Erfolg zu haben, schwört Niedecken heute. Doch die Konzerte wurden immer größer, die Radios fanden Gefallen an dem völlig anderen Sound, sogar die "Bravo" wollte wissen, wer hinter dem merkwürdigen Dialekt steckte.

Niedecken wurde zu einem der gefragtesten Musiker Deutschlands. "Ich galt als Eintänzer, als Galionsfigur, als Zeremonienmeister dieser kleinen Rock-'n'-Roll-Band und damit als jemand, der zu allem eine Meinung zu haben hat", sagt er. "Und da läuft man Gefahr, auf sich selbst reinzufallen. Da war ich sicher nicht vorausschauend genug."

Genau in dieser Zeit prägte Niedecken aber seinen Ruf. Den des musikalischen Sozialarbeiters aus der unteren Mittelschicht, des moralischen Heerrufers der Vergessenen und Entrechteten, des guten Menschen von Köln, der mit seinem Nachbarn Heinrich Böll über die Lage der Nation diskutiert. Es gibt weitaus schlimmere Images. Doch die Journaille rieb sich allzu oft daran und befragte Niedecken mehr zu seinem Mitteilungsbedürfnis als zu den Herzensthemen selbst. "Leider muss man sich in diesem Land rechtfertigen, wenn man ab und zu mal den Finger hebt. Ich versuche inzwischen, ganz schnell aus diesen Gutmensch-Debatten herauszukommen, weil damit zu viel Zeit verplempert wird und es nicht um das eigentliche Engagement geht."

Seit 2008 ist das die Integration traumatisierter, gebrochener, verstümmelter ugandischer Kindersoldaten in einen halbwegs erträglichen Alltag mit dem Hilfsprojekt Rebound. Darüber spricht er gerne. Bei vielen anderen Themen hat sich Niedecken inzwischen selbst Maulkorb und Talkshowverbot verpasst, obwohl er sich selbst einen Nachrichten-Junkie nennt und zugibt, begeisterter Stammseher des "Presseclubs" im Ersten zu sein. Er will nicht mehr Gefahr laufen, sich als Krisenkommentator zu inflationieren.

Natürlich bezieht er kurz und deftig Meinung zur guttenbergschen Plagiatsaffäre, wenn man ihn danach fragt. Aber redet man mit Niedecken länger über den Gesundheitszustand der Erde, dann hält er manchmal inne. Will man dann seine Pause ergründen, sagt er, dass er eigentlich gerade das Wort "Betroffenheit" habe in den Mund nehmen wollen. Befindet man, dass "Betroffenheit" doch eigentlich kein schlimmes Wort sei, gesteht Niedecken: "Ja, aber die Medien haben es zu einem anstößigen Wort gemacht."

Im vergangenen Jahr sah man Wolfgang Niedecken doch mal wieder in einer Talkshow. Da saß er bei Maybrit Illner und schaltete sich in die Debatte um den Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche ein. Unfreiwillig allerdings. Niedecken hatte sich vor Jahren in seiner ersten Autobiografie zu schreiben getraut, dass sich während seiner Internatszeit ein pädophiler und sadistischer Pater an ihm vergriffen, ihn verdroschen und befummelt habe. Keiner erinnerte sich an das Outing.

Doch als ein wachsamer Leser die Passagen aus dem Buch kopierte und an diverse Redaktionen verschickte, sprang erst der "Kölner Express" darauf an, danach hatte Niedecken sämtliche Talkshows in der Leitung. Er entschied sich für die, die ihm am seriösesten erschien. "Die Vorfälle im Internat haben mich zwar nicht zu einem verklemmten Menschen gemacht, und meine Sexualität hat sich erfreulich normal entwickelt. Aber die Übergriffe haben wohl meine Fähigkeit verstärkt, mich in die Gefühlswelt von Kindern hineinversetzen zu können. Da bin ich ganz empfindlich. Es ist sicher kein Zufall, dass ich in dieses Kindersoldatenthema so hineingeraten bin." Sobald es um Kinder gehe, sagt er, hänge er am Fliegenfänger.

Es war Niedeckens Vater, der damals die Initiative ergriff, nachdem er die Prügelstriemen am Rücken seines Sohnes entdeckt hatte - der Pater wurde versetzt. Josef Niedecken führte ein Lebensmittelgeschäft neben dem südlichen Kölner Stadttor. Ein Herz und eine Seele seien sie gewesen, meint Niedecken. Die Abnabelung vom Elternhaus begann mit der Pubertät, sie war grausam. Sie gipfelte in ständigen Diskussionen über die Nazi-Vergangenheit, in denen der Junior den Alten in die Enge trieb, ihm Mitläufertum vorwarf und dessen Argumente pulversierte.

Liest man diese Zeit in Niedeckens Autobiografie nach, so rinnt Reue durch die Zeilen. Die unbarmherzigen Debatten brachten Vater und Sohn auseinander. Diese Erfahrung ließ Niedecken später "Verdamp lang her" schreiben, den Song, ohne den das Publikum Niedecken nicht von der Bühne gehen lässt.

Verdamp lang her, dat ich bei dir

ahm Jraav woor.

Verdamp lang her,

dat mir jesprochen hann,

un dat vumm eine och jet

beim andre ahnkohm,

su lang, dat ich mich

kaum erinnre kann.

Häss fess jeglauv, dat wer

em Himmel op dich waat,

ich jönn et dir, hann ich jesaat.

"Verdammt lang her, dass wir gesprochen haben", singt der Sohn seinem Vater seit Jahrzehnten in den Himmel, hundertfach. "Es muss tragisch gewesen sein für ihn, seinen Kronprinzen einen anderen Weg gehen zu sehen und grundsätzliche Streitdebatten führen zu müssen. Zum Schluss konnten wir uns zwar begegnen und in den Arm nehmen, aber die politischen Themen wurden ausgeklammert", erinnert sich Niedecken, noch immer schwingt Wehmut mit, wenn er davon erzählt. "Unsere Liebe war immer da. Sie diente vielleicht sogar als Puffer, um das alles auszuhalten."

Es blieb nicht nur bei den Kontroversen. Niedecken schlug auch noch den Weg des Künstlers ein. Zur Gitarre und der Begeisterung für Beatles, Stones und Dylan kamen Pinsel und Farbe. "Die wohl unbeschwerteste und glücklichste Zeit war die, als ich mich entschieden hatte, freie Malerei zu studieren. Auch wenn in meinem Hinterkopf die Frage herumgeisterte, ob ich davon werde leben können." Er konnte, zumindest in Kombination mit der Musik. Sie hatte immer mit seiner Befindlichkeit zu tun, oder, ja, benutzen wir das schlimme Wort ruhig noch einmal, mit einer Betroffenheit, die Kunstwerke erst authentisch macht.

Betroffenheit! Zum Teufel mit dem Maulkorb, mit den medialen Strategien. Zum Glück kann Niedecken nicht anders, als seine Betroffenheit zu leben. Sie funktioniert wie ein Reflex auf ein Reizwort, so wie der Rhein ihn jedes Mal sentimental werden lässt. Das letzte Reizwort an diesem verregneten Morgen heißt Köhler, Horst Köhler. Seit dem Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten hat er nichts mehr von seinem Freund gehört, den er auf den Reisen in die Krisengebiete Afrikas kennengelernt hatte und dessen Kontakt er nun schmerzlich vermisst.

"Die genauen Ursachen für den Rücktritt weiß ich nicht", sagt Niedecken, "aber Horst Köhler ist wohl an einen Punkt gekommen, wo seine Selbstachtung infrage stand. Er hatte ja genügend Feinde im politischen Berlin. Ich fand es bezeichnend, dass er zur Verkündung seines Rücktritts seine Frau mitbrachte." Und dann redet sich Niedecken richtig in Fahrt.

"Bei der anschließenden Neuwahl des Bundespräsidenten hat sich keine einzige Partei mit Ruhm bekleckert. Das war ein widerlicher Prozess, der mich sehr ratlos machte. Diese Phase habe ich in sehr guter Erinnerung, weil sie mich fast zur Politikverdrossenheit gebracht hat. Es ging allen nur um Parteiinteressen. Selbst die Grünen waren scheiße, alle waren scheiße. Ich habe nur Lügner im Fernsehen gesehen."

Danach ist er in die Eifel gefahren, ins Grüne, ins Stille, er brauchte Abstand, er wollte wieder klar denken können, so empört war er. Als Reflex schrieb er dort das Lied "Dat feel dir niemohls enn", imposantes Puzzleteil des 17. BAP-Albums "Halv su wild", das diesen Monat auf den Markt kommt.

Un dann natürlich, ob dä Kurs

noch stemmp,

noh all dämm Jäjewind.

Ob mer nit langsam och ens

met dä Strömung schwemmp,

bequem, ejal wohin.

Aff wann mer besser

Kompromisse mäht.

Un dann hoff mer

op en ennere Stemm, die säht:

Niemohls, niemohls,

dat löhste besser sinn.

Stimmt der Kurs noch? Wie sehr hat der Gegenwind die Richtung verändert? Höre ich jetzt auf die innere Stimme? Beende ich an diesem Punkt ein Kapitel meines Lebens? Wolfgang Niedecken spielte mit der Idee, hinter den Songtitel in Klammern "für Horst Köhler" zu schreiben. Er ließ es bleiben.

Dennoch hat es mit dem Schicksal seines politischen Freundes zu tun. Niedecken hat ihn eingeladen zu seinem Sechzigsten. Am 30. März wird er ihn auf dem größten aller Rheinschiffe feiern, jenes, auf dem schon der Papst beim Weltjugendtag 2005 eine Messe abhielt. 1500 Fans und Freunde passen aufs Deck, und garantiert wird die Partygemeinde auch an Rheinkilometer 684 vorbeischippern. "Vielleicht wird dann Horst Köhler auch darunter sein", sinniert Niedecken. "Er hatte ja nie große Berührungsängste, was uns betrifft."