Die Pet-Shop-Boys haben ein Ballett komponiert. Warum? Das Abendblatt spricht mit Neil Tennant über Märchen und die Faszination des Tanzes.
London. Ein winziger Besprechungsraum im vierten Stock des EMI-Gebäudes in London-Kensington: Neil Tennant, die eine Hälfte des Elektropop-Duos Pet Shop Boys, sitzt leger in Jeans, Turnschuhen und Pullover auf einem Sofa und trinkt schwarzen Kaffee. Gemeinsam mit seinem Kollegen Chris Lowe hat Tennant die Ballettmusik zu Hans Christian Andersens Märchen "Das Unglaublichste" ("The Most Incredible Thing") fertiggestellt - es wird am kommenden Donnerstag am Londoner Theater Sadler's Wells uraufgeführt. Die Choreografie stammt von Skandaltänzer Javier de Frutos. Aber man muss gar nicht nach London, um in den Genuss der ungewohnten Pet-Shop-Boys-Klänge zu kommen: Sie sind als Doppel-CD auch in Deutschland erhältlich.
Wie kamen Sie zu der Ehre, ein Ballett komponieren zu dürfen?
Tennant:
Durch eine Fügung des Schicksals. Ivan Petrov, damals erster Tänzer beim Royal Ballett, sprach mich vor etwa vier Jahren darauf an, ob die Pet Shop Boys nicht die Musik für ein kurzes Petrov-Solostück von zwanzig Minuten Länge komponieren könnten? Seitdem haben wir ihn oft tanzen sehen. Nur wenige Tage, nachdem Petrov mich angesprochen hatte, erwähnte mein musikalischer Partner Chris Lowe bei einem Mittagessen, dass er Lust habe, Musik für Andersens "Das Unglaublichste" zu komponieren, das er gerade gelesen hatte. Über Petrov bekamen wir den Kontakt zu Sadler's Wells - und seitdem arbeiten wir an der Musik.
Wie ist Ihre Verbindung zum Ballett?
Tennant:
Ich stehe gerne am Rand der Bühne und schaue mir an, wie die Tänzer den Applaus entgegennehmen, sich vor ihrem Publikum verbeugen ... Ich habe es anschließend stets als sehr faszinierend empfunden, mich nach einer Ballettaufführung in die Künstlergarderoben zu begeben. Es riecht dann nach Tanz, und ich kann die Schweißperlen auf der Stirn der Tänzer sehen. Das Körperliche des Balletts ist ohne Zweifel erregend.
Eine fremde Welt?
Tennant:
Diese Menschen essen tagsüber nicht. Alle Balletttänzer trinken Kaffee und rauchen. Erst nach der Aufführung gönnen sie sich etwas zu Essen - rohes Fleisch, Steak, Tartar ... Das macht diese Menschen so dünn, muskulös und sehnig. Interessanterweise hassen alle Tänzer, die ich kenne, Darren Aronofskys Ballettfilm "Black Swan".
Und Sie?
Tennant:
Ich mochte das Blut in den Ballettschuhen der Tänzerinnen.
Waren Sie eigentlich bei den Proben?
Tennant:
Ehrlich gesagt, waren wir die letzten vier Wochen in Berlin und haben Songs für das nächste Pet-Shop-Boys-Album aufgenommen. Wir dachten: Wir haben unsere Pflicht getan, wir lassen uns überraschen, wie man das Stück bei Sadler's Wells schlussendlich auf die Bühne bringen wird.
Das Plakat zur Vorstellung zeigt den Scherenschnitt einer Tänzerin mit einem gebrochenen Arm. Warum?
Tennant:
In dem Märchen "Das Unglaublichste" von Hans Christian Andersen geht es darum, dass derjenige die Tochter des Königs heiraten darf, der an einem bestimmten Tag "das Unglaublichste" vollbringt. Einer baut eine unglaubliche Maschine, eine Weltmaschine, die war wie eine riesige Uhr - klug, verspielt, poetisch: die unglaublichste Sache, die man bis dahin gesehen hatte. Die Prinzessin verliebt sich in den Erfinder. Ein anderer zertrümmert die Maschine - noch unglaublicher, etwas so Wundervolles zu zerstören. Als die Hochzeit der Prinzessin mit dem Zerstörer ansteht, erwachen die Trümmer der Maschine zum Leben und töten den Zerstörer - das ist noch unglaublicher als der Akt der Zerstörung. Die Prinzessin darf den Erfinder heiraten. Der Scherenschnitt stammt von Andersen selbst.
Sie kannten das Märchen schon vorher?
Tennant:
Ja. Meine Eltern besaßen ein Exemplar der klassischen Ausgabe vom Penguin-Verlag, in der all die Andersen-Scherenschnitte als Illustrationen verwendet worden waren. Klassisch deshalb, weil es sich bei dem Buch um die erste Direktübersetzung ins Englische aus dem Dänischen handelte und nicht, wie seinerzeit üblich, um eine Übersetzung der deutschen Übersetzung. Der Unterschied liegt, wie so oft, in der Grausamkeit. Andersens Märchen sind nur allzu oft grausame Märchen.
Die meisten erinnern Andersens Märchen als weit gruseliger als etwa die Märchen der Gebrüder Grimm.
Tennant:
Ich glaube ja, dass Kinder mit gruseligen und Angst einflößenden Geschichten in der Regel ganz gut umgehen können. Sie nehmen vor allem die Kraft der Erzählung wahr. Hans Christian Andersen war ein ausgesprochen fantasievoller Autor. Er erfand einen neuen Typus von Handlungsträger in der Literatur: das animierte, beseelte Objekt. Die Geschichte eines Stuhls, der zum handelnden Charakter einer Geschichte wird - das ist Hans Christian Andersen. Es ist normal, wenn der Stuhl mit dem Sofa spricht.
Heute gilt dies ohnehin als normal.
Tennant:
Genau. In der "Muppet Show" wurde es aufgegriffen und überhaupt in der gesamten Welt der Animation. Ich glaube, dass bei einem Kind die Faszination für das beseelte Mobiliar die Momente der Grausamkeit bei Weitem übertrifft.
Sie haben sich als Kind nie gegruselt?
Tennant:
Doch, aber selten. Wenn ein Kind sich in einem Märchen in einer feindseligen Umgebung verirrt hatte, spürte ich das Gefühl der Trostlosigkeit. Das allein gelassene Kind hat mich stets stark beeindruckt.
Inwiefern war es für Sie als Musiker reizvoll, das Ticken der Uhr, die der Erfinder gebaut hat, in die Komposition einzuarbeiten?
Tennant:
Es gibt in dem Ballett ein 26-minütiges Stück, in das das Schlagen der Uhrzeiten von eins bis zwölf eingearbeitet ist. So ein langes Stück haben wir noch nie geschrieben. Und nicht nur das: Fast das ganze Stück hindurch hören wir die Uhr ticken, und zwar im gleichen Rhythmus wie ein Metronom. Ich war so von Glück erfüllt, als wir dieses Stück schließlich im Kasten hatten.
Wie gingen Sie damit um, dass "Das Unglaublichste" als Chiffre für den dänischen Widerstand gegen die Nazi-Besatzung des Landes benutzt wurde?
Tennant:
Andersens Märchen ist eine Parabel auf den Faschismus, gar keine Frage. Und wie jede gute Parabel lässt sie sich in einem Satz zusammenfassen: Man kann etwas Physisches zerstören, aber man kann den Menschen nicht die Idee der Freiheit austreiben.
Und was ist mit dem politischen Aspekt? Die Pet Shop Boys haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stets das Politische aus der Musik herausgelassen.
Tennant:
Wir wurden damals stark kritisiert dafür, dass wir "Panzerkreuzer Potemkin" als idealistischen Film begriffen haben - und nicht als kommunistisches Manifest. Doch trat Eisenstein meines Erachtens in erster Linie ein für universale Ideale, und erst in zweiter für eine konkrete politische Agenda. Ich sage: Kunst, die es schafft, Chiffre zu sein, ist die vielleicht die höchste Kunstform, die es gibt.
Pet Shop Boys: "The Most Incredible Thing" erscheint bei EMI