LIVE-Kolumnist Amtsberg über die Omnipräsenz seiner Eltern und das Gefühl nie allein zu sein. Hinter jedem Schrank oder jeder gemusterten Tapete könnten sie lauern.

Das Verkleiden steckt meiner Familie in den Genen. Und feiern andere hier im Norden gar nicht, so war bei uns im Grunde ständig Karneval. Jeder da draußen konnte in Wahrheit mein Vater oder meine Mutter sein, die sich als Fremde verkleidet hatten. Wie oft tauchte mein Vater mit angeklebten Schnurrbärten auf, Brillen mit fremden Augen darin und kontrollierte meinen Fahrschein, ließ mich uniformiert in Alkotester blasen oder aber gab sich als mein neuer Klassenlehrer aus. Oder meine Mutter, die mit falschen Haaren und in viel zu engen Rollkragenpullovern an Supermarktkassen saß und meine Einkäufe prüfte. Mich lachend fragte, wofür ich überhaupt so etwas wie Intimsphärencreme brauche, so wie ich aussähe, hätte ich zu Hause doch sicher alles?!

Es gab Tage, da sahen meine Eltern aus wie die Wände meines Zimmers. Glaubte ich, allein zu sein, hörte ich plötzlich das dumpfe Schnauben meines Vaters, den zu viel Reglosigkeit nervös machte, das Kichern meiner Mutter, das sie immer von sich gab, wenn sie feststellen musste, dass ich so ganz anders war, als sie glaubte. Oder hoffte.

Meine erste Freundin war in Wirklichkeit meine Mutter. Mein bester Freund war mein Vater, erst lange nach dem Abitur habe ich es herausgefunden. Der Fahrlehrer, Großvater, die nackten Frauen, von denen ich träumte - alles meine verkleideten Eltern. Irgendwann glaubte ich, die ganze Welt würde in Wahrheit nur von meinen Eltern bevölkert.

Selbst als ich nach Hamburg zog, wurde es nicht besser. Henning Voscherau kam mir äußerst bekannt vor. Mein erster Mitbewohner, so behaart und grobschlächtig er auch tat, er hatte doch Ähnlichkeit mit Mama - der Hang zur Töpferei, die Liebe für Vogelgesang.

Noch heute fühle ich mich selten allein. Jeder Schrank, jede auffällig gemusterte Tapete - ich schaue mehrmals hin, berühre sie, flüstere die Namen meiner Eltern: Gisela, Horst, seid ihr es?