Roberto Bolaños “Lumpenroman“ stammt aus dem Nachlass des Autors, auf nur 110 Seiten erzählt dieser eine Geschichte von kafkaeskem Format.

Ganz egal, dass man ihn sich schlecht bildlich vorstellen kann, den literarischen Hype: Es muss ihn geben, auch jenseits der Belletristik-Charts. Begeisterte Leser hängen aber eher keine Poster ihrer Stars auf, und auf Lesungen rennen sie fragwürdigen Erscheinungen wie Charlotte Roche die Bude ein. Also Menschen, die Fernsehen machen und dann ein Buch schreiben. Die Bestenlisten sind voll von ihnen. 2004 herrschte, posthum, große Begeisterung um den chilenischen Schriftsteller Roberto Bolaño. Sein Opus magnum "2666", über dessen Entstehung der zwar anerkannte, aber nicht weltbekannte Autor ein Jahr vorher nur 50-jährig an einer Leberzirrhose gestorben war, war zunächst im spanischsprachigen Kulturkreis eine Sensation, dann, 2008, nach der Übersetzung im englischsprachigen. Seit 2009 und der Übertragung ins Deutsche sind nun hierzulande Leser im Bolaño-Fieber.

Das äußert sich im virtuellen Lesekreis, der sich auf www.wilde-leser.de trifft, um in gemeinsamer Lektüre-Arbeit zu schlüssigen Bolaño-Deutungen vorzudringen. Der "New Yorker" ließ seine Leser sogar in einem Blog über "2666" diskutieren. Das sind doch mal schlagende, messbare Beweise dafür, dass es ein Autor schafft, Leser zu fesseln - und dass sein Buch nicht nur als Renommierobjekt im Schrank steht.

Das überschäumende und literarisch dichte Vexierspiel "2666" erscheint den Bolaño-Aficionados dabei nicht als einziges Werk, das eingehende Beschäftigung verdient: "Die wilden Detektive" hat dieselbe künstlerische Tiefe. Und selbst Bolaños letztes und anders als "2666" abgeschlossenes Stück, der "Lumpenroman" (im Original: "Una novelita lumpen"), ist es wert, studiert zu werden. Auch wenn die Novelle - "der "Lumpenroman" ist großzügig gesetzt und auch nur 110 Seiten lang - kein Meisterwerk wie die beiden genannten dickleibigen Romane ist, so geht von ihm doch die Aura literarischer Noblesse aus, die Bolaños in einfacher Sprache und rätselhafter Absicht verfasste Prosa auszeichnet. "Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle", so hebt der "Lumpenroman" an, er handelt von Lumpen, aber welchen, die am Ende, sollte man moralisch argumentieren wollen, Glück haben: Ihr Tun hat keine Folgen, niemand kommt zu Schaden. Bianca, aus deren Sicht erzählt wird, und ihr Bruder sind nach dem Verkehrsunfall der Eltern Waisen. Sie leben in Rom, und sie leben von Gelegenheitsjobs. Sie verdämmern die Tage vor dem Fernseher und schauen Pornofilme, dann schleppt der Bruder zwei "Freunde" an: den "Bologneser" und den "Libyer", wie sie schlicht genannt werden.

Wo in "2666" das Herz der Finsternis pulsierte, in Santa Teresa, der mexikanischen Stadt nahe der Grenze zur USA, legt die Kälte des Seins diesmal Nebelschwaden um eine Heranwachsende in einer europäischen Großstadt. Santa Teresa war das literarische Abbild der Stadt Ciudad Juárez, in der Mitte der 90er-Jahre ganz real Hunderte Frauen ermordet wurden: bestialische Taten, die der Bezugspunkt von "2666" waren. Einen Reim konnte der Leser sich natürlich nicht auf all diese Morde machen. Gleiches gilt nun im "Lumpenroman" für den Gleichmut Biancas, die sich Nacht für Nacht von den ihr unsympathischen Männern beschlafen lässt, um dann auch mit dem abgehalfterten und erblindeten Maciste zu vögeln. Ein glatzköpfiger, alter Muskelprotz, den sie bestehlen wollen.

Aber es ist keine Gangstergeschichte, die hier erzählt wird; angestellt wird eine Berechnung des Bösen. Von einem Autor, dessen Werk sowieso so düster ist wie nur irgendeines. Der "Lumpenroman" erinnert in seiner Reduktion an die Parabeln Kafkas, an einer Stelle heißt es: Es sei das Gesetz des Lebens, "anfangs ist man fast immer der Gute und am Ende ist man immer der Böse".

Natürlich ist der "Lumpenroman" eine Initiationsgeschichte, aber noch nie wurde ein glückender Übergang ins Erwachsenenleben (in Macistes Haus, freudig stellt es Bianca fest, gehörte "mein Schicksal aber zum ersten Mal vollständig mir" - sie schläft gegen Geld mit einem Mann und will ihn ausrauben) nihilistischer beschrieben.

Denn es ist purer Zufall, dass Bianca schuldlos bleibt, sie überlässt Maciste sich selbst. Und den Leser seinen haltlosen Deutungen. "Alles Geschriebene ist Schweinerei", dieses Zitat Antonin Artauds stellt Bolaño, der wahnsinnig wunderbare Autor, seinem "Lumpenroman" voran. Weiter geht es so: "Die Leute, die das Unbestimmte verlassen, um zu versuchen, irgendetwas von dem, was in ihrem Geist vorgeht, zu präzisieren, sind Schweine. Das ganze Literatenvolk ist schweinisch, und besonders dasjenige dieser Zeit."

Hoppla.