Von Gallipoli bis zum Irak: Mit “Let England Shake“ liefert Sängerin PJ Harvey ein so engagiertes wie düsteres Antikriegsalbum ab.

Wer jemals einen John-Ford-Western gesehen hat, kennt diese Trompetensignale, diese aufgeregten Tonfolgen, wenn der Hornist den in Indianergebiet operierenden Kavallerietruppen den Befehl zum Angriff, Rückzug oder Sammeln gibt. Auf einem Album von PJ Harvey muten sie dagegen etwas merkwürdig an. Doch "Let England Shake", das achte Werk von Polly Jean Harvey, ist anders als alles, was die aus Yeovil in der englischen Grafschaft Somerset stammende Sängerin bisher veröffentlicht hat.

Auf ihren bisherigen Alben hat die 41 Jahre alte Künstlerin ihr Innerstes nach außen gekehrt, durchaus verschlüsselt, aber mit deutlichen autobiografischen Bezügen. Sie hat ihre persönlichen Erfahrungen reflektiert und in Songs verarbeitet. Bei "Let England Shake" blickt sie auf eine Welt, die sie selber nie erfahren hat: die Welt des Krieges.

Zwei Jahre lang hat sie das Album vorbereitet, hat Geschichtsbücher gelesen und sich mit Folklore aus Ländern beschäftigt, die lange Kriege erlitten haben: Russland, Vietnam, Kambodscha, Irak. "Es ist nicht so, dass mir erst jetzt auffällt, in was für einer kriegerischen, gewalttätigen Zeit wir leben", sagt sie. "Ich habe mein Leben lang die Konflikte in vielen Ländern der Welt verfolgt, doch ich musste als Songschreiberin erst sicher werden, um mich mit diesem Thema befassen zu können." Mit "Let England Shake" ist PJ Harvey zu einer herausragenden Songschreiberin über den Krieg geworden. In den zwölf neuen Songs findet sie Bilder von ungeheurer Wucht.

"Hanging In The Wire" ist eine Erinnerung an die brutalen Schlachten des Ersten Weltkrieges, in denen Tausende von Soldaten in Stacheldrahtverhauen stecken blieben und von Maschinengewehren niedergemäht wurden. Gleich drei Songs beschäftigen sich mit der Schlacht von Gallipoli im Jahr 1915, bei der 250 000 Soldaten fielen, andere wie "Written On The Forehead" oder "In The Dark Places" beziehen sich auf die jüngeren Konflikte im Irak und in Bosnien. Obwohl es eindeutige historische Anspielungen gibt, geht es PJ Harvey um den Krieg als solches mit seinen verheerenden Auswirkungen nicht nur auf die Soldaten, sondern mehr noch auf die Zivilbevölkerung. "And what is the glorious fruit of our land?", fragt sie in "The Glorious Land". Die Antwort ist eindeutig: Verstümmelte Kinder und Waisen sind die Früchte eines noch so ruhmreichen Krieges.

Aufgenommen hat PJ Harvey die neuen Songs im April und Mai vergangenen Jahres in einer Kirche in Dorset, ebenfalls im Südwesten Englands gelegen. Ihr langjähriger Partner John Parish gehörte ebenso zu den Musikern wie der Multiinstrumentalist Mick Harvey, viele Jahre Mitglied bei Nick Caves Bad Seeds, sowie der französische Schlagzeuger und Sänger Jean-Marc Butty, der schon 1995 nach der Veröffentlichung von Harveys Album "To Bring You My Love" in ihrer Tourband mitspielte. Die vier Musiker und Sänger kreieren einen überwiegend dunklen Sound mit dumpfen Trommeln und schnell geschlagenen Gitarren-Rhythmen. Polly Harvey spielt Saxofon, Gitarre und Klavier und variiert ihre Stimme von Song zu Song. Auf dem Titelsong klingt der Gesang verhangen, als würde sie hinter einem Gaze-Vorhang stehen, "On Battleship Hill" hat etwas Sirenenhaftes, das sparsam instrumentierte "England" wirkt wie das Lied eines jungen Mädchens, "The Glorious Land" ist eine wütende Anklage.

Nach dem vor vier Jahren erschienenen Album "White Chalk", bei dem PJ Harvey zum ersten Mal auf Gitarren verzichtet hatte, ist "Let England Shake" die nächste Häutung dieser scheuen und zurückgezogen lebenden Künstlerin. "Wenn ich mit einem Album beginne, frage ich mich jedes Mal, wie weit kann ich mich vom Vorgänger entfernen?" Musikalisch gibt es Bezüge zu früheren Alben, nur den kruden und wütenden Gitarrenrock von "Dry" oder "Rid Of Me" hat sie weit hinter sich gelassen. Neu ist die politische Künstlerin PJ Harvey. Sie ist der festen Überzeugung, dass immer mehr Menschen sich nicht mehr zu Handlangern des Krieges machen lassen und ziviler Ungehorsam zunehmen wird. Eine Zeile aus "Let England Shake" bringt es auf den Punkt: "England's dancing days are over".

PJ Harvey: Let England Shake (Island/Universal); www.pjharvey.net