Blick zurück: Die Erzählungen “Die Tränen meines Vaters“ aus dem Nachlass John Updikes zeigen den Schriftsteller auf der Höhe seines Schaffens.

Groß wurde er durch seine Romane. Sein Bestes aber habe er "im Sprint über zehn Seiten gegeben", sagte John Updike (1932-2009) über seine Kurzgeschichten. Als Redakteur des "New Yorker" veröffentlichte er Mitte der 1950er-Jahre die ersten Short Storys. Nun, zwei Jahre nach seinem Tod, ist ein Band mit nachgelassenen Erzählungen des Amerikaners erschienen.

18 Texte enthält das Buch mit dem Titel "Die Tränen meines Vaters". Alle zeigen den Schriftsteller ganz auf der Höhe seines Schaffens. Mühelos knüpft Updike an die fabelhaften Alterserzählungen seines letzten Prosabandes "Wie war's wirklich" (2004) an. Updike gelingt es wieder - und darin besteht seine große, unübertroffene Meisterschaft - in den kleinen, oft banalen und trivialen Abenteuern seiner Helden die ganze Tragikomödie menschlicher Existenz aufscheinen zu lassen.

Es ist der gütige Blick zurück auf ein langes Leben, der den Geschichten Glanz verleiht. Die unabdingbare Ehrlichkeit, die erst mit dem Alter wächst. Oder, wie es in der wunderbaren Titelgeschichte heißt, in der sich der Sohn nach dem Tod seines Vaters an dessen Tränen beim Abschied auf dem Bahnsteig erinnert: "Es ist leicht, Menschen in der Erinnerung zu lieben, schwierig ist es, sie zu lieben, wenn sie da sind, vor deinen Augen."

Da ist der alte Craig in der Erzählung "Archäologie in eigener Sache", der auf seinem Grundstück nach Spuren der Vorbesitzer sucht und dabei einen der Golfbälle findet, den er vor Jahren in den Wald geschlagen hatte, als ihm sein jüngster Sohn mitteilte, die Nachbarn ließen sich scheiden.

"Das vertrauensvolle Kind stand am Rand eines sich öffnenden Abgrundes, einer Katastrophe, die sein Vater gerade anrichtete", schreibt Updike. Ist Craig selbst doch der Liebhaber der Nachbarin und somit Grund für die Scheidung. Noch heute wacht er manchmal nachts panisch auf und muss an die ihm Gastritis verursachende Affäre denken. Obwohl er sich damals, in jenem Moment, "seltsam gelassen" fühlte, ja geradezu "meisterlich ruhig".

Oder da ist der in die Jahre gekommene Les Merill in der Geschichte "Verletzbare Ehefrauen", der sich am Ende des Lebens doch noch von Gattin Lisa trennen will, als er mitbekommt, seine ehemalige Affäre Veronica habe sich scheiden lassen, lebe allein und leide an einer Autoimmunerkrankung. Immer schon machte sie einen blassen und hilfsbedürftigen Eindruck. "Jetzt würde er sich bis ans Ende seines Lebens um sie kümmern." Als ihn Ehefrau Lisa aber eines Nachmittags ins Schlafzimmer holt, damit er den Knoten in ihrer Brust betaste ("Ich kann keins der Kinder darum bitten oder eine Freundin"), revidiert er seinen Entschluss noch einmal. "Dies war der Bienenstich, die Vertrautheit, nach der er sich immer gesehnt hatte, sie war rechtmäßig sein ..."

Mit der Gelassenheit und ganzen Erfahrung des Alters, psychologisch fein motiviert wie in seinen besten Romanen ("Ehepaare", "Hasenherz") und immer authentisch erzählt Updike seine Geschichten. Wer, wenn nicht dieser Mann, hätte den Literaturnobelpreis sonst verdient gehabt? Wie er über seine Autorenkollegen und den Literaturbetrieb dachte, lässt sich in seinen gerade auf Deutsch erschienenen Rezensionen und Essays nachlesen, die der Band "Fällige Betrachtungen" enthält. Bis zuletzt hat John Updike an Menschenkenntnis und Erzählfreude nichts eingebüßt. Wie sein Protagonist David Kern in "Die Straße nach Hause" kehrt er noch einmal zurück an Orte seines Lebens und wandelt auf den Spuren der Vorfahren, die sich wie ein "unsichtbares Netz aus ausgetretenen Pfaden über das Land" erstrecken.

Er nimmt Motive älterer Texte auf und setzt Handlungsmuster fort. Wendet sich noch einmal den Ereignissen des 11. September zu oder erzählt von seinen Eltern, die nur aus Angst zusammengeblieben sind, dass kein anderer sie haben wollen könnte. Viel Zeit ist vergangen seither. Die Charaktere von damals sind in die Jahre gekommen. Beim Jahrgangstreffen der Olinger-High-Abschlussklasse von 1950 tanzt niemand mehr. Mit den Blicken aber verzehren sich die einstigen Klassenkameraden immer noch. Wenn sie mit dem anderen Auge auch nebenbei schon mal nach ihrem Rollator in der Ecke linsen.

John Updike: "Die Tränen meines Vaters" , Rowohlt, 368 Seiten, 19,95 Euro

John Updike: "Fällige Betrachtungen" , Essays, Rowohlt, 702 Seiten, 14 Euro