Was sich aus dem Hirn herausdreht: Das Debütalbum des Briten James Blake ist verstörend, vielfältig - und vor allem unglaublich gut.

Manchmal legt James Blake bei einem DJ-Set "Bills, Bills, Bills" von Destiny's Child auf. Nicht gerade die coolste Nummer unter der Sonne, aber Blake ist das egal. Ihm gefällt der Song. Da der 22-Jährige in seiner englischen Heimat gerade als Wunderkind des elektronischen Pop gefeiert wird, genießt er ohnehin Narrenfreiheit. Am kommenden Freitag erscheint nun sein Debütalbum, schlicht "James Blake" benannt - und es ist definitiv die Electro-Platte des Jahres, so neu, verstörend, faszinierend und ungewöhnlich ist diese Musik.

Einen Namen hat die Musikpresse für diesen singulären Sound bereits parat: Post-Dubstep. Dubstep, vor etwa zehn Jahren in den Klubs Südlondons kreiert, ist ein minimalistischer, bassbetonter Instrumentalsound, der mit 135 bis 145 Schlägen pro Minute aus überdimensionalen Boxen wummert und bei entsprechender Lautstärke den gleichen Effekt hat wie Schläge in die Magengrube. "Sie bohrt sich richtig tief ins Hirn rein", beschreibt Blake seine erste Begegnung mit Dubstep in einem Kellerlokal namens Plastic People.

Als Blake mit Schulfreunden den Klub im Nordosten Londons besucht, klingen ihm die Ohren. Obwohl Musik seit Jahren Teil seines Lebens ist. Als Sechsjähriger sitzt er zum ersten Mal auf einem Klavierhocker, übt auf eigene Faust und bekommt später klassischen Klavierunterricht. Als Teenager beginnt er zu improvisieren, entdeckt Jazz-Virtuosen wie Erroll Garner und Art Tatum, begeistert sich für Soul und Gospel und beginnt Orgel zu spielen.

Dann: die Offenbarung im Plastic People. Blake beginnt sofort, eigene Tracks zu bauen - und kehrt dabei das Prinzip des Dubstep um. Er entschleunigt das irrwitzige Tempo und spielt wie in Zeitlupe. Er treibt die Umkehrung auf die Spitze, wenn es in seinen Tracks Pausen von bis zu zwei Sekunden gibt. Man glaubt, ein Stück sei vorüber, und dann setzt die Musik aufs Neue ein. Tanzen ist zu diesen Nummern unmöglich. Die Möglichkeiten von Klavier und Orgel reichen ihm bald nicht mehr aus, Blake beginnt am Computer zu experimentieren. Die Kompositionen, die dabei entstehen, sind nicht nur elektronisch zusammengefrickelte Beats und Loops, sondern richtige Songs mit Melodien, kurzen Texten und einer Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten.

Endgültig besonders macht die Musik von James Blake seine Stimme. "I'm falling, falling, falling", singt er in "The Wilhelm Scream", und es bleibt offen, ob es sich um den schwerelosen Fall in einer Traumwelt handelt oder den Todessturz eines von der Liebe verwirrten jungen Mannes. Blakes Falsett erinnert an die Stimme von Antony Hegarty, wie bei dem Sänger aus New York sind auch Blakes Melodien fragile Gebilde in Moll. Das Lied einer anderen außergewöhnlichen Künstlerin hat Blake noch zerbrechlicher gestaltet: Leslie Feists "Limit To Your Love" mit seinen sparsam eingesetzten Klavierakkorden und Blakes ergreifender und übereinander geschichteter Stimme hat Hit-Qualitäten.

Seine Songs haben auch sakrale Facetten. In "I Never Learnt To Share" setzt er den mächtigen und dunklen Klang einer Kirchenorgel ein, "To Care (Like You)" und "Measurements" nehmen die Emotionalität eines Gospelchores auf. Die Tracks "Lindisfarne I" und "Lindisfarne II" verweisen auf das erste englische Kloster. Im Jahre 635 von Mönchen im Nordosten in der Grafschaft Northumberland gegründet, wurde es zu einem Wallfahrtsort und dem Ausgangspunkt der Christianisierung Großbritanniens.

Blakes Songs passen eher in die Ruhe eines Klosters als in einen Tanzschuppen. Oder wie er selbst sagt: "Ich will Tracks produzieren, die so berühren, wie das sonst nur eine uralte Soulnummer schaffen würde."

James Blake: James Blake (Universal, ab 11.2.)