Neumeiers Ballett ist weltbekannt, doch der Schule fehlt Nachwuchs. Zu Besuch in einer Welt, die Mädchen lieben und Jungs geheim halten.

Hamburg. Gleich hinter dem Haus liegt ein Fußballplatz, einer dieser großen, schmutzigbraunen Ascheplätze. Er sieht trostlos aus, nass und abweisend, es liegen Flaschen herum. Ein paar Jungs spielen drei gegen drei im Nieselregen, Kerlchen in ausgebeulten Trainingshosen und dreckigen Trikots von Barça, dem HSV und Besiktas. "Ey, du Asi!", brüllt einer. "Deine Mudda!", brüllt der andere zurück.

Sechs Jungs, ein Ball und ein Platz. Das erzählt mehr, als diese Geschichte hier jemals erzählen könnte.

Eine Weile später dann steigt Ursula Ziegler die breiten Steinstufen im Inneren des "Hamburger Ballettzentrums John Neumeier" im Stadtteil Hamm hinauf, sie bleibt stehen und schaut aus dem Fenster, hinunter auf diesen Platz. Die Jungs sind verschwunden, es gibt eigentlich nichts weiter zu sehen, und doch sieht sie vieles. "Das da unten", sagt sie, zeigt zum Platz und lächelt, "das da ist unsere Konkurrenz." Sie klingt etwas ratlos und schweigt eine Weile. Dann sagt sie: "Fußball, Jungs lieben Fußball." Sie sagt es so, als wäre das die Antwort auf alle ihre Fragen.

Frau Ziegler ist seit 1979 die organisatorische Leiterin der Ballettschule, sie stellt sich schon länger viele Fragen, wenn es um die Zukunft des Hauses geht, und sie alle kreisen um einen Kern: Warum kommen immer weniger Hamburger Kinder? Vor allem: Wo bleiben die Jungs? In diesem Moment kommen drei Mädchen die Treppe herauf, schmale Persönchen mit leichtem Gang und feinen Gliedern, vielleicht 14 Jahre alt. Sie haben klare Gesichter und große Augen, das Haar ist streng nach hinten gebunden. Und sie haben es bereits, das Tänzerinnenhafte, diese Mischung aus Zerbrechlichkeit und Härte. Sie grüßen und lächeln, sie neigen die Köpfe, und man hört: Deutsch ist nicht ihre Muttersprache.

Für einen kurzen Moment denkt man an die Jungs vom Fußballplatz da unten und versucht, sie sich hier in diesem Haus vorzustellen, in dem alles vornehm wirkt, streng und zurückgenommen, anders. Und auch die Kinder und Jugendlichen, die einem in diesem Gebäude begegnen, in dem ständig von irgendwoher ein Klavier klingt; auch diese jungen Balletttänzer wirken irgendwie feiner gewirkt, straffer in der Haltung und fester umrissen in ihren Körpern, anders. Man gibt es auf, sich die Jungs vom Fußballplatz hier in diesem Gebäude vorstellen zu wollen. Es mag einfach nicht gelingen. Vielleicht ist genau das das Problem der Ballettschule: Alles hier drinnen scheint Lichtjahre entfernt von der Welt da draußen. Wenn der Platz da unten der Nordpol wäre, dann wäre die Ballettschule der Südpol.

Die Ballettschule des Hamburg Balletts von John Neumeier bildet seit 1978 Kinder und Jugendliche zu Tänzern aus, es gibt in Europa wenige Schulen von solcher Güte. Wer hier lernen darf, kann es weit bringen - rund 70 Prozent der Tänzer der Compagnie des Hamburger Balletts sind Absolventen der Schule, die Stars wie Silvia Azzoni, Alexandre Riabko, Carsten Jung oder Edvin Revazov hervorgebracht hat.

Die Bewerber um einen Platz in den begehrten Ausbildungsklassen für Kinder ab elf Jahren kommen aus der ganzen Welt, wer nicht aus Hamburg oder der näheren Umgebung kommt, tritt in das schuleigene Internat ein, und viele würden alles tun, um hier aufgenommen zu werden. "Wir könnten die Schule voll machen mit Japanern, Chinesen und Russen", sagt Frau Ziegler. Aber das will hier niemand. "Wir verstehen uns als Hamburger Institution, wir wollen den deutschen Nachwuchs fördern und Talente entdecken." Und hier liegt das Problem bei den Hamburger Kindern: Zurzeit lernen 60 Kinder in den Vorschulklassen, das ist der Ballettschule zu wenig, 100 Kinder, so heißt es, wären besser, so wie früher. Früher, dieses Wort hört man hier oft.

Ann Drower steht aufrecht im Raum, die 14 Kinder der Vorschulklasse C schauen sie an, nur zwei Jungs sind darunter. Die Britin ist Ballettmeisterin an der Schule, sie schaut in die Runde und sieht in diesem Moment nicht sehr zufrieden aus. Irgendjemand hat da gequasselt, das geht nicht. "Was ist Ballett?", fragt Drower. Finger schnellen in die Höhe. Drower nickt einem Mädchen zu. "Eine stille Kunst", sagt die Kleine.

"Und was sind wir?", fragt Drower. "Diszipliniert, organisiert und konzentriert", antwortet das Mädchen. Es klingt eigentümlich und fremd aus dem Mund eines Kindes. Doch die Kleine strahlt. Das Klavier setzt wieder ein, Drower ruft Kommandos in den Raum, und die Kinder winkeln die Arme, sie beugen die Rücken, dehnen die Füße und schreiten durch den Raum. Das sieht oft noch ein wenig eckig aus, doch man erahnt bereits Bewegungen. Die sich ablösen von den Bewegungen, die man von Kindern kennt. Für einen kurzen Moment nehmen sie das Artifizielle und Schöne des Balletts an, es gibt eine Vorstellung von dem, was in Zukunft einmal anmutig und groß sein könnte.

Diese Bewegungen und Übungen verlangen Dinge von den kleinen Körpern, die sie nie von selbst machen würden. Jeder Balletttänzer muss ein Leben lang gegen seinen Körper arbeiten. Tänzer sind Athleten, kaum ein Sportler hat einen Körper, der dem eines Tänzers auch nur nahekommt. Und doch wird Ballett selten als Hochleistungssport gesehen, zu mächtig ist der Eindruck der Kunst, zu weit weg ist diese Kunst von den eigenen Bewegungen.

Dazu kommen die Staffage, die Bühne und die Entrückung. Mädchen mögen sich angezogen fühlen von dieser Welt, den Kleidern, dem Prinzessinnenhaften. Bei Jungs sieht das ganz anders aus. "Ballett ist für Jungs einfach nicht cool", sagt Ursula Ziegler. Um sie herum stehen ein paar Jungs der Vorschulklassen. Und fragt man sie, wie ihre Freunde oder Klassenkameraden es finden, dass sie Ballett tanzen, kommen immer dieselben Antworten. "Die lachen mich aus." "Es ist mein Geheimnis, dass ich Ballett mache." "Die sagen, Ballett ist nur für Mädchen."

Jungs sind mit Ballett kaum zu beeindrucken. Nicht in dieser Welt da draußen vor dem Fenster, in der Ballett auch noch so beladen mit Klischees ist wie kaum eine Sportart, die Jungs interessieren könnte. Diese Klischees sind mächtig und ungerecht, sie machen es der Ballettschule schwer und lassen so manches Talent unentdeckt bleiben. Wer weiß schon, ob da gerade ein großer Tänzer direkt hinter dem Haus einem dreckigen Ball hinterherrennt?

Ursula Ziegler sagt, manchmal sehe sie den Jungs da unten beim Fußballspielen zu. Dann bemerke sie ihre krummen Rücken, überhaupt: diese ganze schlaffe Haltung! Und dass sie diese Jungs dann am liebsten eigenhändig aufrichten würde - "so!". Als sie "so!" sagt, greifen ihre Hände vor ihrem Körper zu, ins Leere hinein.

Eine ganze Weile schaut sie einfach nur aus dem Fenster. Sie weiß wohl, dass diese Jungs nie durch ihre Hände gehen werden.

Die Ballettschule von John Neumeier bietet am 5. und 12. Februar Schnupperkurse für Mädchen und Jungen zwischen sieben und elf Jahren an. Sie finden von 15.30 bis 16.30 Uhr in den Räumen der Schule statt, Caspar-Voght-Str. 54. Vorkenntnisse sind nicht nötig. Nach dem kostenlosen Schnupperkursus können die Kinder in den regulären Vorschulklassen weitertanzen. Weitere Infos und Anmeldung unter T. 21 11 88 30 oder uschi.ziegler@hamburgballett.de