Enrique Diaz, Cristina Moura und das Coletivo Improviso mit dem Theaterprojekt “Otro (or) weknowitsallornothing“ bei den Lessingtagen.

Thalia Gaußstraße. Das "Andere" hat mehr mit einem selbst zu tun, als mancher auf den ersten Blick vermuten mag. Es kommt nur auf die Wahrnehmung an. Das "Andere", "Otro (or) weknowitsallornothing", nennen der Theatermacher Enrique Diaz, die Choreografin Cristina Moura und das Coletivo Improviso ihre gemeinsame Annäherung an das Unbekannte. Eine Versuchsanordnung über Wahrnehmungsmuster, die Dichotomie von privatem und öffentlichem Raum, Individualität und Gesellschaft. An diesem Mittwoch und Donnerstag gastiert "Otro" bei den Lessingtagen im Thalia in der Gaußstraße.

Wenn Enrique Diaz, 42, über seine Arbeit spricht, lachen seine Augen unter den grauen Locken. Alles an ihm ist in Bewegung. ",Otro' ist ein offenes Projekt. Wir wollten als Kollektiv mit unterschiedlichen künstlerischen Hintergründen durch die Erfahrung des 'Anderen' gehen", sagt Diaz. "Das Ergebnis ist zwar ein Abend mit Form und Struktur, aber er bleibt immer lebendig."

Diese Offenheit ist typisch für den Regisseur, der als einer der wichtigsten Brasiliens gilt. Mit seiner Companhia dos Atores inszeniert er Klassiker wie "Hamlet" oder "Die Möwe" genauso wie freie Produktionen mit dem Coletivo Improviso, einer Truppe, die sich neben Diaz und Moura aus sechs weiteren Choreografen, Regisseuren, Schauspielern und Musikern im Alter zwischen Mitte zwanzig und Mitte fünfzig zusammensetzt. Sie alle sind mit eigenen Arbeiten berühmt geworden und verabreden sich gezielt für ein Projekt.

Monatelang haben sich die Akteure in Stadtspaziergängen durch die Megacity Rio de Janeiro auf die Suche nach dem "Anderen" begeben. Sie sind mit dem Stadtbus gefahren und mit Vorortzügen, sie erkundeten ihre vertraute Nachbarschaft genauso wie noch nie betretene Stadtviertel. Aus Begegnungen wurden Interviews, aus Interviews erzählerische Miniaturen. In sechs Monaten hat das Kollektiv das Rohmaterial, Erfahrungen, Videos und Dokumente in eigene Diskurse, Bewegungen und Bilder übersetzt. "Es ist inspirierend, frische Sichtweisen kennen zu lernen", erzählt Enrique Diaz. "Jeder ist daran interessiert, was der andere anbietet. Gemeinsam sucht man nach der Grenze des Darstellbaren."

"Otro" erzählt mal poetisch, mal nervös von scheinbar unspektakulären Begebenheiten des Alltags aus der schönen, zerrissenen Stadt, die hier als ein Schatz an Ideen und Begegnungen erstrahlt. Das Rio der kriminellen Banden und der Favela-Hütten kommt darin nicht vor. Das ist keine bewusste Entscheidung, sondern Ergebnis der Versuchsanordnung, die Kunstbehauptungen wie diese erbrachte: Eine Frau erwartet den Freund, der mit der Fähre aus Niteroi, der tristen Industriestadt auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht, zu ihr übersetzen will.

Der Freund bittet auf der Fähre mit einem weißen Tuch vor Augen eine Mitreisende per Schild, ihn sicher hinüberzugeleiten. Nach der Ankunft entflieht die Führerin. "Wir wollten untersuchen, was es heißt, in der Stadt 'blind' zu sein", sagt Cristina Moura. "Sich von einer fremden Person leiten zu lassen, führt zu einer geschärften Wahrnehmung." Ein Franzose hat sich nach Brasilien geflüchtet, die Freundin schilt ihn einen Schmarotzer. Ein Waffen sammelnder Amerikaner betrauert den Tod der Großmutter am Tresen einer Bar. Es entsteht ein amorphes Über- und Nebeneinander der globalen Großstadt.

"Otro" gastierte erfolgreich beim Brüsseler Festival "Kunsten" und bei den Wiener Festwochen. Enrique Diaz sucht nach dieser Arbeit erneut die Abwechslung. "Eine Arbeit wie 'Otro' hilft mir, meine Inszenierungen stärker zu öffnen. Danach brauche ich erneut diesen offenen Raum. Sonst würde ich akademisch bis ins Letzte versuchen, die Tradition der Klassiker zu verstehen." Demnächst wird Enrique Diaz in einer brasilianischen Fernsehsoap als Schauspieler auftreten. Ein echter Tausendsassa eben.

Otro Do 3.2., 20.00, Thalia in der Gaußstraße (S Altona), Gaußstraße 190, Karten zu 26,- unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de

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