Die poetische Familiengeschichte “Poll“ ist ein ambitioniertes, bildgewaltiges Epos

Schon der erste Blick auf die Villa im Meer haut den Zuschauer um: eine Art großherrschaftliches Anwesen auf Stelzen, mit griechischen Tempelsäulen in der Mitte, zwei Rundum-Balkonen links und einem einzigen Fenster rechts. Ein protziges, morbid-kurioses Ungetüm aus Holz, das schon einmal bessere Zeiten gesehen hat. Und doch kann man den Blick nicht von ihm abwenden.

Es ist Juni, man schreibt das Jahr 1914. Poll, so der Name des Gutes, liegt an der baltischen Ostseeküste, gehört also zum Zarenreich. Hier leben Deutsche, Russen und Esten - nicht sehr einträchtig - zusammen. Hierher kehrt die 14-jährige Oda von Siering (Paula Beer) zurück. Sie begleitet die Gebeine ihrer kürzlich gestorbenen Mutter, mit der sie in Berlin lebte. Endlich sieht sie auch ihren Vater Ebbo wieder, ein wunderlicher Arzt mit ausgefallenem Hobby: Er untersucht Gehirne, die er - nach gekonntem Aufsägen der Schädeldecke - in Einmachgläsern verwahrt. Edgar Selge spielt ihn faszinierend als Mischung aus hochgeistigem Arzt und verrücktem Wissenschaftler, der die Wirklichkeit um sich herum nicht mehr wahrnimmt. Die Handlung kommt in Gang, als Oda einen verwundeten estnischen Anarchisten (Tambet Tuisk) in einem Nebengebäude findet und ihn fortan, versteckt auf dem Dachboden, umsorgt - ohne dass die anderen von diesem Geheimnis wissen dürfen.

Der Kostümfilm "Poll" ist ganz aus der Sicht Odas erzählt, und das aus einem guten Grund: Der Film orientiert sich an den Memoiren von Oda Schaefer (1900-1988), einer deutschen Schriftstellerin, die - wie es der Zufall will - obendrein die Großtante von Regisseur Chris Kraus ist, der für seinen letzten Film "Vier Minuten" zahlreiche Preise bekommen hat. Die Liebesgeschichte jedoch hat er erfunden.

14 Jahre hat Kraus über dem Projekt gebrütet, drei Jahre dauerte die Produktionszeit, allein das Herrenhaus nahm sechs Monate Bauzeit in Anspruch. Herausgekommen ist ein Film, der einen eigentümlich zwiespältigen Eindruck hinterlässt: Auf der einen Seite beeindruckt er durch die schillernd-faszinierenden Bilder und die großartigen Schauspieler, auf der anderen verstört er durch das morbide Thema und die Überambitioniertheit. Trotzdem wünschte man sich, dass mehr deutsche Regisseure solch einen Mut zu großem, wenn auch nicht ganz perfektem Kino hätten.

++++- Poll D/Österreich/Estland 2007, 129 Min., ab 12 J., R: Chris Kraus, D: Paula Beer, Edgar Selge, Tambet Tusik, Jeanette Hain, Richy Müller, täglich im Koralle-Kino, Passage, Zeise; www.poll-derfilm.de