Der Schriftsteller Arno Geiger hat ein berührendes Buch über seinen demenzkranken Vater geschrieben. Es heißt “Der alte König in seinem Exil“.

Einmal verschlang der alte Herr zehn Stück Torte, nachdem er bereits ein mehrgängiges Menü zu sich genommen hatte. Ein anderes Mal fand sich der lange vermisste Rasierapparat in der Mikrowelle. Und als ein Journalist mit dem Schriftstellersohn ein Interview fürs Radio führen wollte, hämmerte der Vater laut in der Werkstatt. Ein unmögliches Benehmen, ärgerte sich der Sohn und dachte sich nichts dabei. Solche Episoden berichtet der österreichische Schriftsteller Arno Geiger in seinem neuen und sehr persönlichen Buch "Der alte König in seinem Exil". Geiger, der mit seinem Roman "Es geht uns gut" 2005 der erste Preisträger des Deutschen Buchpreises war und für seinen letzten Roman "Alles über Sally" manches Lob erhielt, erzählt von seinem Vater und dessen Veränderung durch eine Krankheit, deren erste Anzeichen kaum wahrnehmbar sind.

Demenz beginnt schleichend und unmerklich, zieht ihr Netz langsam und bedächtig über dem Betroffenen zusammen. Und sie verstärkt vorhandene Charaktereigenschaften. Das jedenfalls ist der Blickwinkel, aus dem Arno Geiger und seine drei Geschwister Vater August und seine "Aussetzer" betrachten, ihn immer wieder beschwören, er möge sich zusammenreißen.

Basierend auf diesen Erfahrungen und dem Fortschreiten der Krankheit hat Arno Geiger, Jahrgang 1968, ein zartes, mitfühlendes und unverstelltes Buch geschrieben, das zugleich auch das luzide Porträt eines eindrucksvollen Mannes ist. "Der alte König in seinem Exil" erzählt vom Verfall eines Gedächtnisses, vom Verlust aller Sicherheit, aber auch vom Umgang mit der Krankheit, die trotz Trauer und Hoffnungslosigkeit Lebensfreude bereitet.

"Ich stelle mir Demenz", schreibt Geiger gleich zu Beginn, "in der mittleren Phase, in der sich mein Vater momentan befindet, ungefähr so vor: Als wäre man aus dem Schlaf gerissen, man weiß nicht, wo man ist, die Dinge kreisen um einen her, Länder, Jahre, Menschen. Man versucht sich zu orientieren, aber es gelingt nicht. Die Dinge kreisen weiter, Tote, Lebende, Erinnerungen, traumartige Halluzinationen, Satzfetzen, die einem nichts sagen - und dieser Zustand ändert sich nicht mehr für den Rest des Tages."

Und noch etwas wird Arno Geiger sehr bald klar: "Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm." Das hilft, jedenfalls bisweilen, denn auch darüber täuscht der Bericht nicht hinweg: Anstrengend ist es für alle. Auch die Betreuer, die sich abwechseln können, weil die Familie groß ist, geraten an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.

Geiger beschönigt nicht, er beschreibt seine Verwirrung, sein Entsetzen, seine Wut. Empfindungen, die aus Unverständnis resultieren. "Wir dachten, seine Defizite kämen vom Nichtstun. Dabei war es umgekehrt, das Nichtstun kam von den Defiziten." Das so veränderte Bild des Vaters ist für Kinder schwer erträglich, auch dann, wenn sie erwachsen sind. "Die Krankheit", beobachtet Geiger, "fraß sich nicht nur ins Gehirn des Vaters, sondern auch in das Bild, das ich mir als Kind von ihm gemacht hatte. Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf."

Es hat Jahre gedauert, bis die Familie den Sachverhalt begriffen hatte, bis die Diagnose Demenz offenlag. Geiger spart nicht mit Selbstkritik: "Wenn wir klüger, aufmerksamer und interessierter gewesen wären, hätten wir nicht nur dem Vater, sondern auch uns selber vieles erspart, und vor allem hätten wir besser auf ihn aufpassen und noch rasch einige Fragen stellen können."

Was Geiger auf wunderbare Weise gelingt: das Leben des Vaters einzufangen, von dessen Kindheit auf dem Lande zu erzählen, von Krieg und Krankheit und Lazarett und von der daraus resultierenden Sehnsucht nach Sesshaftigkeit.. Wie durch ein Brennglas blickt er auf die Biografie des Vaters und gelangt so zu einem tiefen Verständnis von dessen Seele und findet dadurch einen Wegweiser für den Umgang mit den täglichen Absonderlichkeiten. Die heiteren, bisweilen komischen Seiten der Krankheit, die es eben auch gibt, helfen die schweren Stunden ein wenig zu lindern. "Der alte König in seinem Exil" ist ein anrührendes, ein berührendes Buch, ein Buch, das dem Porträtierten seine Würde belässt. Es ist trotz des belastenden Sujets heiter, leicht - und damit im besten Sinne hilfreich.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil erscheint am 7.2., Hanser-Verlag, 189 S., 17,90. Arno Geiger liest am 15.2., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38, Eintritt: 6,- bis 10,-