Kein Buhruf, nicht ein einziger: Charles Gounods “Faust“ feiert Premiere an der Staatsoper - mit einem Bühnenbild ohne viel Zierrat.

Hamburg. Vielleicht ist der "Faust" ja wirklich vor allem eine Archetypen-Studie. Da haben wir den seiner verlorenen Jugend hinterherjammernden alten Knacker, der so gerne noch mal möchte - und diabolischerweise dann auch noch mal darf. Wir haben das tugendhafte, gefallene Mädchen, ihren chancenlosen Freier und den redlichen, in seinem Ehrbegriff beschränkten Soldatenbruder. Und über allen herrscht die mächtigste Kasperlefigur von allen: der Teufel, Mephisto.

Solches Personal wirkt umso plastischer, je weniger Zierrat einer braucht, um es zum Leben zu erwecken. Deshalb wohl entschieden sich der Regisseur Andreas Homoki und sein Ausstatter Wolfgang Gussmann (Bühne und Kostüme) bei ihrer Inszenierung von Charles Gounods "Faust" an der Hamburgischen Staatsoper für ein auf den Konstruktivismus verweisendes Bühnenbild. Den Grundformen sich wiederholender menschlicher Charaktere und Verhaltensweisen stellen sie Grundformen zyklischer Geometrie an die Seite: Kreis und Zylinder.

Ein raumhoher, anthrazitfarbener Zylinderabschnitt, montiert auf einer Schiene, beherrscht als massiver, gewölbter Vorhang die Bühne. Dahinter liegt ein durch eine kleinere Zylinderwand zum Raum erhobener innerer Kreis. Er stellt mal Gretchens Zuhause vor, mal die Kirche, mal das Gefängnis. Auf der dazwischen rotierenden Scheibe und vorn an der Rampe spielt sich das öffentliche Geschehen ab. Alles dreht sich gemächlich in dieser düsteren, bis in die Kostüme von Grautönen dominierten Zauberwelt. Zugleich ist die Inszenierung ein psychologisch nahrhaftes Spiel mit Puppe und Masken. Es öffnet einen weiten Assoziations- und Deutungsraum, in dem vieles Platz hat - Projektion und Spiegelung, Identitätszweifel, Kindheitssehnsucht, Frankenstein-Mythos und Altmännerfantasien mit einem willfährigen Püppchen ...

Für Gounods lyrische Musik, die mit schlanken Mitteln vielfältigste Stimmungen weckt, nahm sich der Dirigent Cornelius Meister bei der Premiere am Sonntag Zeit. Gut so, wo schon die Ouvertüre, weil sie vom Ende alles weiß, zugleich den Charakter eines Epilogs trägt. Die Philharmoniker hatten das Stück sorgfältig geprobt und spielten durchweg differenziert und klangschön. Bei der Koordination mit dem Chor blieben indes Wünsche offen.

Über einen von Giuseppe Filianoti versägten Spitzenton hörten alle barmherzig hinweg. Denn sonst sang er gut. Doch seine Darstellung blieb hölzern und blass. So wenig Passion und Seelenpein war selten bei Faust. Der stimmlich gut aufgelegte Tigran Martirossian gab einen jungen, virilen Mephisto, der mit seinen bleichen, langen Händen und Fingern und roten Teufelshörnchen an eine Stummfilmfigur denken ließ. Alexia Voulgaridou sang und spielte eine Marguerite, deren Innigkeit und Intensität sich im Verlauf der Aufführung kontinuierlich steigerten. Herzergreifend: Maria Markina als treuer Liebes-Loser Siebel. George Petean zeigte sich als Valentin schauspielerisch wie stimmlich bestens auf der Höhe. Bei Renate Spingler als Nachbarin Marthe ballte sich das Komödiantische in ihrem üppig gepolsterten Hinterteil. Als am Ende nicht einer sein Kontrastprogramm aus visueller Abstraktion und sinnlichem Klang mit einem Buhruf quittierte, schaute Homoki fast ungläubig in den Saal. Simone Young, die dort saß, dürfte ihn beneidet haben.