Carlo Modersohn hat eine innige Dokumentation über seinen Urgroßvater, den Maler Otto Modersohn, gedreht. Jetzt kommt der Film nach Hamburg.

Hamburg. "Ich sah fast gleich, dass meine Erwartungen nicht getäuscht waren. Ich fand ein höchst originelles Dorf, das auf mich einen durchaus fremdartigen Eindruck machte; der hügelige sandige Boden im Dorf selbst, die großen bemoosten Strohdächer und nach allen Seiten, so weit man sehen konnte, alles so weit und so groß wie am Meer", schrieb Otto Modersohn, als er 1889 zum ersten Mal nach Worpswede kam.

Der 24-Jährige hatte in Düsseldorf und Karlsruhe Kunst studiert. Doch im Studio klassische Skulpturen oder idealisierte Landschaften zu malen, wie es Mode war, reizte ihn nicht. Ihn faszinierte die französische Landschaftsmalerei des "Pleinair": malen in freier Luft, mitten in den puren Stimmungen der Natur, mit impulsivem Pinselstrich. Zusammen mit Künstlerfreunden gründete Otto Modersohn (1865-1943) in Worpswede nordöstlich von Bremen eine Künstlerkolonie und entwickelte sich dort zu einem der bedeutendsten deutschen Landschaftsmaler.

Diesen Lebensweg hat sein Urenkel Carlo Modersohn, 28, jetzt in einem 80 Minuten langen Dokumentarfilm nachgezeichnet. Es ist die Neuentdeckung eines Urahns. Der Film basiert auf zeitgenössischen Bildquellen - alten Fotos, Filmaufnahmen, Bildern und Skizzen. Auf kunstgeschichtliche Kommentare hat der Regisseur verzichtet. "Ich wollte, dass man Otto Modersohns Zeit durch ihn selbst sieht", sagt er. Eigentlich war ein Kurzfilm geplant, als Video für Ausstellungen. Aber dann wuchs das Projekt: Das Drehbuch schrieb die Mutter des Regisseurs, Marina Bohlmann-Modersohn, Auftraggeberin war seine Tante Antje Modersohn, Leiterin des Modersohn-Museums in Fischerhude.

Carlo Modersohn, aufgewachsen in Rotenburg/Wümme, kannte Fischerhude, aber über das Leben seines Urgroßvaters wusste er wenig. "Mich hat interessiert, was er als junger Künstler wollte, wie es überhaupt zu der Koloniegründung in Worpswede kam", sagt er, "die Künstler waren ja damals so alt wie ich." Anderthalb Jahre lang fuhr er Lebensstationen seines Urgroßvaters ab, darunter dessen Geburtsstadt Soest, Paris und den Alterssitz im Allgäu; er sichtete Briefe und Tagebucheintragungen. Und stieß auf die anschaulichen Texte Rainer Maria Rilkes, die dieser über Worpswede geschrieben hatte. Das Teufelsmoor im heutigen Landkreis Osterholz, eins der größten Moore Norddeutschlands, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein blinder Fleck, erst seit 200 Jahren besiedelt. "Dieses Land", schrieb Rilke, "hatte keine Historie gehabt, aus langsam sich schließenden Sümpfen war es aufgewachsen, und die Leute, die sich arm und elend darin niederließen, hatten keine Geschichte. Und doch schien alle Vergangenheit und die Pracht aller Vergangenheit irgendwie darin enthalten zu sein."

Otto Modersohn hat diesen farblichen Schatz gehoben: das Schwarzbraun des Bodens, das "weiche, wehende, blonde Gras", die Moorkaten, Wasser in den Gräben "wie Spiegel aus dunkelblauem Stahl". Schon als Kind war er begeisterter Naturforscher und -beobachter gewesen, aber im Teufelsmoor erlebte er die Natur als Inszenierung. In den sturmgetriebenen Wolken, nebligen Wiesen, explodierenden Herbstfarben, den Weißschattierungen der Birken fand er "die geheimnisvolle Farbenandacht des Nordens", wie er sagte.

Die Menschen dieser Landschaft gehörten dazu. Modersohn malte sie über den Äckern gebückt bei ihrer schweren Arbeit, Mädchen in bunten Schürzen wie Schmetterlinge zwischen den Birkenstämmen. "Er muss auch Sinn für Humor gehabt haben", meint Carlo Modersohn. "Wir haben auf vielen Bildern einen kleinen Gag entdeckt, zum Beispiel ein winziges Plumpsklo mit einem Herzchen an der Tür."

Der Kunstszene erschien das Teufelsmoor als seltsame Wahl. Entstanden doch damals Künstlerkolonien an attraktiveren Orten, etwa in Ahrenshoop an der Ostsee oder in Dachau. Aber die Worpsweder waren produktiv und erfolgreich. Modersohn schuf zeitweise fünf bis sieben Gemälde pro Woche.

Mit der elf Jahre jüngeren Paula Becker, die er 1901 nach dem Tod seiner Frau Helene heiratete, verband ihn die wohl intensivste künstlerische Beziehung. Darüber lässt der Film des Urenkels die Bilder der beiden sprechen: ein Lehrstück, wie verschieden sie dieselben Motive wiedergegeben haben. Modersohn bewunderte Paulas Farbensinn, sah in ihr "etwas ganz Seltenes". Nach ihrem Tod - sie starb 1907 nach der Geburt der Tochter Mathilde - heiratete er die 26-jährige Sängerin Louise Breling und zog nach Fischerhude. Dass er später in Hindelang (Allgäu) einen Hof kaufte und ein neues Sujet entdeckte - die Alpen -, ist heute fast vergessen.

Der Film verschweigt auch nicht die Vereinnahmungsversuche der Nazis, die Modersohn als "Heimatmaler" 1942 einen Professorentitel verliehen. Da war er nach einer Netzhautablösung bereits auf einem Auge blind. Er starb im März 1943 in Rotenburg/Wümme.

Carlo Modersohn idealisiert seinen Urgroßvater nicht. Ihm ist ein klarer, unprätentiöser, intimer Einblick in dessen Leben und Denken gelungen. Und ein Rückblick auf eine Landschaft, die es nicht mehr gibt. Nur noch Teile des Teufelsmoors sind heute geschützt. Es gehört längst zum Weichbild von Bremen - mit Neubausiedlungen, Gewerbegebieten und Lidl-Märkten.

So weit und groß, Hamburg-Premiere am So 30.1., 15 Uhr, Abaton. Der Regisseur ist anwesend. www.soweitundgross.de