Die Galerie Hilaneh von Kories zeigt erstmals in Deutschland Bilder einer unbekannten Meisterin der Straßenfotografie, die kürzlich entdeckt wurden.

Hamburg. Von Zeit zu Zeit erinnert das Leben daran, dass es selbst immer noch die besten Geschichten schreibt. In dieser Geschichte verknotet es die Biografien zweier Menschen, die einander nie begegnet sind. Sie klingt wie ein Märchen, aber allem Anschein nach hat sie sich genauso zugetragen. Ein Mensch bewahrt den anderen vor dem Vergessen und wird dafür mit einem Schatz belohnt, den der andere im Laufe seines Lebens angehäuft und achtlos hinterlassen hat. Und dem einen fällt der Schatz nicht einfach in den Schoß; er muss ihn erwerben, um ihn zu besitzen.

Auf der Suche nach Illustrationsmaterial für eine geplante Veröffentlichung über die Gegend in Chicago, in der er Wohnraum vermittelt, gerät der junge Immobilienmakler John Maloof im Jahr 2007 bei einer Auktion an eine Kiste voller Negative. Er kauft sie für 400 Dollar - und ist bei der ersten Durchsicht enttäuscht. Wohl erkennt er ein paar Häuser und Straßenzüge, aber die Bilder zeigen überwiegend Menschen. Arbeiter, kleine Handwerker, Mittellose, Gestrandete, Hausfrauen beim Schwatz, Straßenszenen, alte Leute im Bus. Und immer wieder Kinder. Alles in Schwarz-Weiß. Kleidung, Autos und Ambiente lassen auf die 50er-Jahre schließen. Datierungen fehlen, ebenso der Name des Fotografen.

Maloof ist 26 Jahre alt, versteht etwas von Immobilien und hat von Fotografie keine Ahnung. Trotzdem rät ihm sein Instinkt, anderen Mitbietern bei der Auktion ihre Kisten mit Negativen abzukaufen. Inzwischen hat er genug von diesen Arbeiten gesehen, um zu ahnen, dass sie was taugen. Nächtelang schiebt er Negativstreifen um Negativstreifen über den Scanner. In einem der Kartons entdeckt er 2009 schließlich doch einen Hinweis auf die Autorschaft der Bilder: Ausnahmsweise hat Vivian Maier da mal ihren Namen hingeschrieben. Maloof googelt ihn - und findet eine Referenz: eine Zeitungsnotiz über Vivian Maiers Tod vor einigen Tagen. Nun stellt er über das Flickr-Portal eine Auswahl von Fotos ins Netz. Ob andere Straßenfotografen dazu bitte eine Einschätzung abgeben würden? Am nächsten Tag hat John Maloof 200 Antworten aus aller Welt. Darunter jede Menge seriöse Angebote für Ausstellungen, Fotobücher, ganze Dokumentarfilme.

Der Fund ist eine Sensation. Bis vor zwei Jahren kannte kaum ein Mensch Vivian Maier. Die wenigen, die Umgang mit ihr hatten, schildern sie als verschrobene, eigensinnige und ihre Privatsphäre rigoros abschirmende Frau. Zeit ihres Lebens erschien keines ihrer Fotos je in irgendeiner Zeitung, in irgendeinem Magazin. John Maloof rekonstruiert nun mithilfe seines Freundes Anthony Rydzon Bruchstück um Bruchstück der Biografie dieser geheimnisvollen Frau, die ihren spröden Blick auf manchen Selbstporträts festhielt. 1926 in New York geboren und aufgewachsen in Paris, kehrt sie mit Mitte zwanzig in die USA zurück, bleibt erst in New York und zieht dann nach Chicago. Im Englischen behält sie bis ins Alter einen französischen Akzent.

Beruf: Kindermädchen. Berufung: Fotografin des alltäglichen Lebens. "Wenn sie freihatte, hängte sie sich ihre Kamera um den Hals, setzte ihren Hut auf, zog Schuhe und Mantel an und ward den Rest des Tages nicht mehr gesehen", erzählt Maren Baylaender, eine aus Hamburg stammende Dame, die schon lange in Chicago lebt. In ihrem Haushalt betreute Vivian Maier vier Jahre lang die behinderte Tochter des Herrn Baylaender. In ihr Zimmer ließ die Angestellte die Herrschaften nicht. Bis unter die Decke lagerte sie hier und im Keller Kisten mit Negativen und unentwickelten Filmrollen, außerdem Ordner im Dutzend mit Zeitungsausschnitten - und Fotobücher. Ganz ohne Vorbilder und Anregungen hat Vivian Maier ihre Streifzüge durch Chicago also nicht unternommen. Später stapelte sich das Material des Kultur-Messies mit den "groben Manieren" (Maren Baylaender) in einem Lagerhaus. Als die Miete dafür überfällig wurde, kam es zur Zwangsversteigerung. Maloof schätzt den Bestand, den er mittlerweile zusammengekauft hat, auf 100 000 Aufnahmen, darunter auch Farbdias.

Wenn es mit rechten Dingen zugeht, ist er bald ein sehr reicher Mann. Denn die Fotos von Vivian Maier, von denen die findige Hamburger Galeristin Hilaneh von Kories ab morgen in Hamburg als Erste in Deutschland mehr als 80 fabelhaft geprintete Arbeiten zeigt, sind von tiefer Menschenliebe und einem unbestechlichen Blick für den rechten Zeitpunkt geprägt. Man wird förmlich aufgesogen von diesen intensiven, markanten Gesichtern, die Maier ganz überwiegend auf der Straße abgelichtet hat. Ihre Bilder sind mal Kurzgeschichten, mal brillante Sozialreportagen ohne Worte, entstanden ohne jeden Auftrag, zumindest ohne jeden Auftrag von außen. Für den Kurator des Chicago Cultural Centers, das jetzt im Januar Maiers Bilder zeigt, steht das Beste ihrer auf einer Rolleiflex entstandenen Straßenfotografie auf einer Stufe mit den Großmeistern der Zunft.

Was mag sie für ein Leben gehabt haben? Inzwischen erwachsene Kinder, die sie einst hütete, schildern Maier als eine Art Mary Poppins, unkonventionell und abenteuerlustig. Der "FAZ" zufolge hat sie mal den Milchmann überredet, die Kinder in seinem Lieferwagen zur Schule zu fahren. Sie sei eine große Kinogängerin gewesen und habe gern Männerkleider getragen. Von Liebschaften mit einem Vertreter egal welchen Geschlechts ist nichts bekannt.

Auch sonst liegt noch vieles in ihrer Biografie im Dunkeln. Mit seinem Partner Rydzon und einem Profi aus Kopenhagen arbeitet John Maloof nun selbst an einem Dokumentarfilm, der die mysteriöse Fotografin einem größeren Publikum näherbringen soll: "Finding Vivian Maier" lautet der Arbeitstitel. Geld dafür treibt er über das Internet-Sponsorenportal Kickstarter auf. Maloof bat um 20 000 Dollar Startkapital, bis gestern hatte er bereits Zusagen über 71 727 Dollar. Es scheint, als hätten noch ein paar andere Leute Freude an Geschichten, die das Leben schreibt.

Vivian Maier. "Twinkle, Twinkle, Little Star", Vernissage am 27.1., 19 Uhr. Bis 28.4. Galerie Hilaneh von Kories (Bus 6), Stresemannstraße 384a, geöffnet Di-Fr, 14.00-19.00 u. n. V., T. 42 32 01 12