Der Fotokünstler Thomas Wrede besiedelt einsame norddeutsche Landschaften mit Gebäuden und Installationen im Miniaturformat

Ein hellgelb erleuchtetes Fußballfeld mitten in einer in bläuliches Licht getauchten Wüstenlandschaft, im Hintergrund drohen düstere Wolken - wer tritt dort bei Flutlicht gegeneinander an? Wo mag dieses Spiel stattfinden? Die Antwort: auf Amrum. Und: Das Fußballfeld, so wie wir es sehen, gibt es überhaupt nicht. Es ist eine Miniatur.

Ein Hauch des Unwirklichen umweht die Landschaftsszenerien, die Thomas Wrede in seinem Fotobuch "Anywhere" zeigt, aus dem das Bild "Bolzplatz" stammt. Sie passen in Romane von John Irving oder T.C. Boyle, irgendwie aber auch in den "National Geographic". Es sind Immobilien zwischen Idylle und Katastrophe: Wie Spielzeuge stehen sie am Rand von Abgründen, Steinwüsten oder eigenartigen, menschenleeren Lagunen.

Auf den ersten Blick scheint es, als habe Wrede die Welt im Hubschrauber nach geeigneten Domizilen abgesucht. "Ich bekomme viele Bewerbungen von Praktikanten mit der Begründung, ich sei doch so viel unterwegs", sagt Wrede und lacht. Denn weit gefehlt: Der Fotokünstler stellt zwar überall auf der Welt aus, aber er lebt und arbeitet in Münster. Und seine "Real Landscapes" sind nur zum Teil "real".

Die weitläufigen Dünen und Strände findet Wrede auf Amrum und Sylt, in St. Peter-Ording, im Watt vor Cuxhaven, die Geröllhalden hat der Braunkohle-Tagebau in der Lausitz übrig gelassen. Die einsamen Häuser und Siedlungen aber bringt er mit: Miniaturen im Maßstab H0. Freunde der Modelleisenbahn erkennen deshalb oft als Erste, was Wredes Fotos zeigen: konstruierte, möblierte Landschaften. Orte der Sehnsucht, des Traums, manchmal des Albtraums.

Wrede, 1963 im westfälischen Letmathe geboren, hat sich mit Landschaften schon befasst, als er in Münster und Berlin Malerei studierte. Bei früheren fotografischen Ausflügen hat er sich systematisch an sein Sujet herangetastet. Er fotografierte die "Themenlandschaften" deutscher Freizeitparks, die New Yorker Werbelandschaften mit hauswandhohen Reklametafeln, die Fototapeten in deutschen Haushalten, mit denen die Bewohner quasi beim Wohnen in die Berg-, Seen- und Waldlandschaften hineingleiten wollen.

Die Stilisierung von Landschaft für erbauliche, ästhetische oder philosophische Zwecke, die an Caspar David Friedrich erinnert, hat nicht mit der Romantik aufgehört. Wir sind umgeben von inszenierter Realität, die wir als Landschaft akzeptieren. Wredes Konzept, seine eigenen Landschaften zu bauen, ist eine Fortsetzung dieser Inszenierung mit fotografischen Mitteln: ein Spiel mit Maßstabsverzerrungen und Illusionen im realen Naturraum.

"Die Idee für ein Foto habe ich meist lange vor der Realisierung", sagt er. Dann jedoch beginnt erst einmal handwerkliche Bastelarbeit. Sein Foto "Dari King Drive-In" (2008), ein spielzeugkleines Schnellrestaurant als einsamer Lichtpunkt in der Nacht, verortet man in einem Roadmovie in der Wüste von Arizona. Doch das Foto entstand in der Lausitz. Miniatur-Bungalow, Autos, Kakteen und Lichtmast waren vormontiert auf einer 30 mal 30 Zentimeter großen Platte, unter der sich die Batterie für die Glühbirnen befand. Mit einem Fahrradanhänger beförderte Wrede seine Ensembles zum gewünschten Ort, implantierte seine Kulissen in den Sand, zog Straßen und Wege.

Wetter und Licht müssen stimmen - das richtige Abendrot, der richtige Mondschein, die richtigen Wolkenformationen. Auf den Sonnenuntergang für "Drive-In Theatre" (2009), das Titelbild seines Fotobuchs "Anywhere", hat er auf Sylt lange warten müssen, erzählt er, "zwei Wochen lang war der Himmel nur bedeckt".

Wrede arbeitete 2009 als Stipendiat des "Kunst:Raums Syltquelle" einige Wochen lang in Rantum. Wenn er täglich mit schwerem Fotogerät zum Strand aufbrach, fühlte sich sein Mit-Stipendiat, der Schriftsteller Walter Grond, an den "Direktor eines kleinen Filmstudios oder Wandertheaters" erinnert. Wrede transportierte mit seinem Anhänger nicht nur seine Miniaturmodelle, sondern auch die mehr als 20 Kilo schwere Plattenkamera, die ihm Langzeitbelichtungen von mehreren Minuten und eine große Tiefenschärfe ermöglicht.

Am liebsten arbeitet er morgens, abends und nachts. Beim Aufbau der Szene sollen möglichst keine Badegäste und Schaulustigen stören, die Fußabdrücke hinterlassen. Auch der Wind darf nicht zu stark sein, sonst fliegen die Immobilien weg. Weil der Sand von Amrum wesentlich feiner und weißer ist als der auf Sylt, entstanden auf Amrum - mitten im Sommer - sogar Bilder von "Schneewüsten". Die sterilen hellen Sande, dunklen Steinhaufen und Krater, die der Tagebau in der Lausitz hinterlassen hat, ergaben dramatische Effekte. Inzwischen hat das Land Brandenburg begonnen, diese Mondlandschaften zu renaturieren und zu begrünen. "Heute könnte ich meine Fotos dort nicht mehr machen", sagt Wrede. Die Erkenntnis, dass diese exotisch wirkenden Landschaften alle im Norden Deutschlands entstanden sind, desillusioniert den Betrachter vielleicht zuerst, sie amüsiert aber auch.

Wredes Buch ist eine Wanderung zwischen Realismus, Illusion und Fiktion. Da erobern Hochhäuser einen Geröllhang: Genauso sehen Siedlungen in Israel am Rande der Negev-Wüste aus. Zwanzig identische Einfamilienhäuser kuscheln sich an einen Schneeberg: Das könnte auch irgendwo in den Alpen sein. Heute schieben sich Vorposten der Zivilisation selbst ins entlegenste Niemandsland - Urbanisierung in Sibirien, Container in der Antarktis, Fertighäuser in Feuerland. Eben anywhere - irgendwo, absurd und wirklich.

Anywhere. Thomas Wrede. Ausstellungskatalog. Kehrer, 128 S., 36 Euro