Drei Wochen ging der Fotograf Dirk Reinartz 1981 durch St. Georg und fing das Leben dort mit der Kamera ein. Seine Bilder gibt es nun als Buch.

Hamburg. Ohne den ärmellosen Haushaltskittel geht es nicht. Barfuß ist die Frau, die im legendären Café Gnosa an der Langen Reihe die Auslage putzt, aber den Kittel trägt sie trotzdem; eine andere hängt in einem Innenhof weiße Gardinen zum Trocknen auf. Ein gepunkteter Kittel fegt mit einem grotesk großen Besen den Gehsteig; eine andere mit ähnlichem Muster frisiert einen Pudel, der mit ihr durch ein Schaufenster hinaus auf die Straße blickt.

Es sind skurrile Szenen, die der Fotograf Dirk Reinartz im Frühjahr 1981 im Hamburger Stadtteil St. Georg aufgenommen hat. Und doch zeigen sie nichts als jeweils eine 125tel-Sekunde der Wirklichkeit - damals, in jenem Jahr und an jenem Ort, an dem es ohne Kittel nicht ging. Auf diese Weise, ohne jede Inszenierung, die Wirklichkeit abzubilden ist hohe Kunst - denn meist verändert eine Kamera den Menschen, oder sie demütigt ihn. Nicht so bei Dirk Reinartz: Seine großartigen Bilder aus dem Hamburger Stadtteil St. Georg, die der US Street Photography in nichts nachstehen, sind nun zum ersten Mal in einer Retrospektive in seiner Geburtsstadt Aachen und in einem Bildband zu sehen, den seine Frau Karin aus diesem Anlass im Göttinger Steidl-Verlag herausgegeben hat.

Eine Schwarz-Weiß-Strecke über St. Georg mit seinen Stundenhotels und Straßendealern und heruntergekommenen Altbauten hinter dem Hauptbahnhof sollte er fotografieren. So lautete der Auftrag, den das Magazin "Merian" Reinartz im Herbst 1980 gab. Subjektiv sollten die Bilder sein - das kannte er noch aus seiner Ausbildung bei Otto Steinert an der Folkwangschule. Was der Artdirector aber mit "grafischen Aufnahmen" meinte, wusste er nicht. Also verließ er sich auf seinen Instinkt und seine große Liebe zur uninszenierten Street Photography. Drei Wochen ging er mit der Kamera durch das Viertel spazieren. Reinartz war dabei nicht auf der Suche nach dem Besonderen. Er fand: das Normale, Alltägliche, Anrührende, das so viel schönere Geschichten erzählt als jede Inszenierung.

Es waren goldene Zeiten für die Fotografie in Deutschland, als diese Aufnahmen im Frühjahr 1981 entstanden. Denn es gab noch Magazine, die ihren Lesern zutrauten, sich auf lange Bildstrecken und die Kraft des unbewegten Fotos einzulassen. Und weil auch das Internet noch in weiter Ferne war und noch fleißig Anzeigen in Illustrierten und Magazinen geschaltet wurden, gab es auch noch entsprechende Etats für Recherche. Sie ermöglichten es den Fotografen, sich tage- und manchmal sogar wochenlang auf ein einziges Projekt zu konzentrieren. Dirk Reinartz liebte es, so zu arbeiten. Um ein Motiv abbilden zu können, wollte er es immer erst verstehen. Und so konnte es geschehen, dass er erst zwei Ausstellungen eines Künstlers ansah und drei Bücher über ihn las, bevor er mit ihm einen Porträttermin vereinbarte. Der große Mann mit dem imposanten Schnauzbart unter dem dunklen Lockenkopf war zurückhaltend und trotzdem immer an seinem Gegenüber interessiert, er konnte zuhören. Dirk Reinartz liebte die Menschen. Sie waren für ihn, den Fotografen, niemals nur Motiv.

1947 in Aachen geboren, wurde er mit 24 der jüngste Fotoreporter beim "Stern", später arbeitete er auch für Geo, den "Spiegel", das "ZEITmagazin" und "Life". Das von ihm mit begründete Büro "Visum" gilt bis heute als Urtyp selbst verwalteter Autorenagenturen. Seit 1998 unterrichtete Reinartz als Professor an der Muthesius-Hochschule in Kiel. Neben der Lehrtätigkeit und der Arbeit für Medien verfolgte er aber immer auch eigene Projekte, die, wie er einmal sagte, "im Kopf immer schon als fertiges Buch vorhanden sind".

Die Retrospektive im Suermondt-Ludwig-Museum seiner Geburtsstadt Aachen zeigt eine Auswahl aus allen seinen großen Serien. Die Aufnahmen aus Konzentrationslagern, deren amerikanische Buchausgabe unter dem Titel "Deathly still" ein Standardwerk wurde und im Schulunterricht eingesetzt wird, und die Bismarck-Denkmale in ganz Deutschland. Die Künstlerporträts und die Fotos aus New York, mit denen er sich bei einem längeren Aufenthalt in der Stadt 1974 ganz bewusst auf große Vorbilder wie Robert Frank, Gary Winogrand und Lee Friedlander stellte.

Erst wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod im März 2004 erschien der Bildband "Innere Angelegenheiten" - eine Reise zu den Monstrositäten der deutschen Architekturnormalität, aus denen wieder die Menschenliebe des Fotografen spricht. Und sein großartiger Humor: Dirk Reinartz lebte selbst in einem Reihenhaus in Buxtehude.

Das Buch: Dirk Reinartz, "Hamburg, St. Georg 1981", Steidl Verlag, Göttingen, 28 Euro. Die Ausstellung: "Dirk Reinartz - Fotografien", Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen, bis 6.2.2011, www.dirk-reinartz-fotografie.de