Weihnachten ist ein Fest für die ganze (Patchwork-)Familie - komme, was wolle. Und komme, wer wolle. Beziehungsweise: bleibe weg, wer kann.

Manchmal gibt es auf die einfache Frage "Und wie feiert ihr Weihnachten?" mehr als die Standardantwort: "Na, mit der Familie." Manchmal sitzen Freunde in den besten Jahren lange genug zusammen, um sich zu erzählen, wie es bei ihnen am Heiligen Abend wirklich zugeht. Und das klingt oft genug nach Stress. Denn Familie, das heißt heutzutage oft etwas ganz anderes als Vater-Mutter-Kind. Bei vielen besteht die Familie aus Mitgliedern, die durch Liebeleien, Ehen und Scheidungen wild zusammengewürfelt worden sind. Meine, deine, unsere Kinder kommen zu Besuch, klar, aber deren Partner, Groß- und Schwiegereltern, Ex-Ehemänner und -frauen sowie deren neuer Anhang gehören oft auch dazu, zumindest wenn Weihnachten gefeiert wird. Ist ja schließlich alles irgendwie Familie, auch wenn noch manche Rechnung offen ist. Die "Familie" wird am 24. Dezember oftmals so groß, dass, ähnlich wie bei einem russischen Roman, ein Personenverzeichnis nötig wäre, um noch durchzublicken.

Beispielsweise bei den Ebels. Frau Ebel hat Herrn Ebel vor einem Dutzend Jahren wegen eines anderen, Udo, verlassen. Die beiden gemeinsamen Kinder wuchsen mal hier, mal dort auf. Auch Udo hatte eine Ehefrau verlassen, Maria. Die Ehe war kinderlos. Herr Ebel hat nun eine neue Frau, Birgit. Die wiederum hat einen geschiedenen Mann und drei Kinder. Alle Kinder sind in den Zwanzigern. Udo ist vor drei Jahren verstorben. Frau Ebel (also die Ex) hat jetzt einen neuen Partner, Manuel, einen Südamerikaner, der kein Deutsch und nur schlecht Englisch spricht. Vor zwei Jahren hatte er einen Schlaganfall, sodass er nur ungenau artikulieren kann - auf Spanisch.

Die größte Konstante in diesem Beziehungsgeflecht ist Herr Ebel. Seit Jahren organisiert er die Weihnachtsfeier. Erst nur mit seinen Kindern. Dann mit seiner neuen Partnerin Birgit, deren betagter, schwerhöriger Mutter und Birgits Kindern - was schon schwieriger wurde, weil diese auch noch zum Vater sollten. Nach dem Tod von Udo wurde auch seine Ex, also Frau Ebel, wieder eingeladen. Erstaunlicherweise klappte das alles recht manierlich. In diesem Jahr tauchen nun erstmals ganz andere Probleme auf. Denn die Kinder haben inzwischen Partner, und auch Frau Ebels neuer südamerikanischer Freund soll nicht alleine feiern müssen. Ebenso wenig Birgits Ex-Mann, der keine neue Partnerin hat. Schließlich gehört auch Maria längst dazu, denn sie hatte sich nach Udos Tod großzügig mit Frau Ebel zusammengetan, um über die Trauerfeier und die Aufteilung von Udos Habseligkeiten zu sprechen. Sie muss jedenfalls auch zur Weihnachtsfeier kommen.

So weit, so gut. Nun hat einer von Birgits Söhnen (noch mal zur Erinnerung: Sie ist die Neue von Herrn Ebel) eine Partnerin, die Birgit nicht mag. Eine Italienerin, die - nach Birgits Meinung - zu gerne shoppen geht und überhaupt nicht zu ihrem Sohn passt. Birgit versucht seit ein paar Wochen, ihren Sohn, der in Mailand lebt, davon zu überzeugen, dass man dieses Jahr "ganz in Familie" machen will und er "die Italienerin" deshalb zu Hause lassen soll. Der aber möchte sie mitbringen, schließlich ist er zu Silvester bei ihren Eltern eingeladen. Zudem hat er erfahren, dass seine Geschwister sehr wohl ihre Partner mitbringen werden. "Deine Schwester ist verheiratet", hat die Mutter ihm geantwortet "und sie bringt meinen Enkel mit. Das ist etwas ganz anderes als bei dir." Aber auch sein Bruder wird seine Freundin mitbringen. Sie ist wohlgelitten, weil sie im Betrieb mitarbeitet. Die Schwester allerdings will nicht kommen, wenn ihr Vater (Birgits Ex) zu Weihnachten auftaucht. Er wollte ihre Hochzeit verhindern, hält den Schwiegersohn für nicht würdig. Eine Meinung, die Birgits Mutter teilt und gelegentlich äußert. Birgit aber antwortet, sie wolle alle ihre Kinder sehen. Was also tun? Zumal der Sohn von Herrn Ebel auch eine Freundin hat, die er unbedingt mitbringen will, eine Inderin, "die viel schlauer ist als mein Sohn", wie Herr Ebel sagt. Mit Weihnachtsfeiern allerdings ist sie bisher noch nicht sehr vertraut. Wenn der Sohn die Freundin nicht mitbringen darf, komme er nicht, hat er gesagt. Und Herr Ebel will zwischen all den anderen Verwandten, die bei ihm eintrudeln, keinesfalls ohne seinen Sohn feiern. Die Tochter von Herrn Ebel ist Rockmusikerin und möchte "nicht immer diese spießigen Feiern, auf denen nichts los ist". In diesem Jahr will sie mit ihrer Band bei ihrem Vater Musik machen.

Wenden wir uns einer anderen Familie zu, den Thomsens. Sie sind keine Patchworkfamilie. Sie sind ein Ehepaar mit drei erwachsenen Kindern, zwei Schwiegersöhnen, zwei Schwiegermüttern, einem dementen Vater und einer Ex-Schwägerin, die vom Bruder (respektive Schwager, Sohn) verlassen wurde. Neuerdings kommen noch weitere Mitglieder dazu, denn die älteste Tochter, die in Köln lebt, hat einen Rumänen geheiratet und ist bereits Mutter eines Babys, das nächtens, tagsüber und morgens ab halb sechs herumkräht. Und das besonders gern, wenn es in der Wohnung der Thomsens übernachtet, weil es sich dort nicht heimisch fühlt. Marian, der Rumäne, ist ein reizender Mann, dessen Eltern noch traditionellen, rumänischen Bräuchen anhängen und die weder Deutsch noch Englisch sprechen, was die Kommunikation deutlich erschwert. Auch diese Eltern sollen nicht alleine im verschneiten Rumänien darben und reisen deshalb an, um über die Festtage bei den Thomsens zu wohnen. Zur letzten Familienfeier kamen sie nach einer 26-stündigen Busreise mit acht Kohlköpfen in der Tasche. Diese wurden nach dem Eintreffen in der thomsenschen Küche zerschnippelt und in Essiglake eingelegt, in der sie zwei Tage lang marinieren sollten. Die Küche war in dieser Zeit nur eingeschränkt benutzbar.

Am Weihnachten zuvor hatte sich der Sohn der Thomsens als schwul geoutet. Wie und wann er das machen sollte, hatte er mit seiner Mutter diskutiert, um den Vater zu schonen. Was er nicht berücksichtigt hatte: dass der Großvater sein Kurzzeitgedächtnis verloren hatte und die Familie noch zehnmal an das Outing erinnerte, wenn er lauthals fragte: "Was hat der Junge?"

Im Jahr davor hatten die Thomsens Platten beim Feinkosthändler bestellt, die nicht geliefert wurden. Der Laden hatte es vergessen. War aber nicht so schlimm. Denn um 14 Uhr an Heiligabend hatte die Thomsens bereits ein anderes Unglück ereilt. Herr Thomsen wurde von seiner Frau darauf hingewiesen, dass an der Gardinenstange ein Ring locker heraushing. Herr Thomsen kletterte auf die Leiter, angelte mit dem Arm nach dem Ring, rutschte ab und landete mit dem Holm der Leiter zwischen seinen Beinen. Autsch! Den Rest der Feiertage verbrachte er liegend mit Eisbeuteln zwischen den Beinen.

Halb Patchwork ist wiederum Familie Schmidt. Herr und Frau Schmidt haben zwei Kinder in den Zwanzigern. Hinzu kommen zwei erwachsene Kinder aus einer früheren Verbindung von Herrn Schmidt, eine Tochter, Isabell, und ein Sohn, Simon. Die Mutter dieser Kinder lebt inzwischen auf Ibiza, fällt also für die Weihnachtsfeier aus. Isabell ist alleinerziehend und hat eine Tochter, die derzeit in England auf dem Internat ist. Von ihrem Ex-Freund (nicht der Vater der Tochter) hat sie sich in Freundschaft getrennt. Grund genug, auch ihn weiterhin zu Weihnachten einzuladen, schließlich hat er an den Feiertagen jede Menge neue Witze und Anekdoten parat. Auch die Mutter von Frau Schmidt ist dieses Jahr an Weihnachten wieder dabei. Diesmal mit Rollator.

Schwierig gestaltet sich das Verhältnis zwischen Frau Schmidt und Stiefsohn Simon. Und eigentlich auch zwischen Herrn Schmidt und Simon. Doch der mag das nicht zugeben, weil sein schlechtes Gewissen ruft. Simon ist faul. Bringt nie ein Geschenk, hilft nicht und kommt auch nur, wenn man ihn einlädt. Hier klopft das schlechte Gewissen von Herrn Schmidt erneut, schließlich möchte er alle seine Kinder um sich haben. Damit dennoch alles gut wird, kaufen die Schmidts vor und nach der Arbeit ein und sind bereits eine gute Woche vor den Feiertagen mit Vorbereitungen beschäftigt. Pünktlich zum Heiligen Abend sind sie dann oft krank. Entweder Grippe oder Brechdurchfall.

Gerade hat heulend die Enkelin (Isabells Tochter) angerufen. Sie sitzt in London fest. Schneekatastrophe. Kann man sich Schlimmeres vorstellen?