Der Schriftsteller Haruki Murakami erzählt in “IQ84“ die Geschichte einer schwierigen Liebe in seiner konventionsstarren Heimat

Mit großem Getöse fängt es an. Es braust und schwelgt. Dann wieder flüstert und zittert es. Leos Janáèeks "Sinfonietta", so der Titel des aufwühlenden Klangwerks aus dem Jahre 1926, tönt lautmalerisch aus dem Radio des Taxis, auf dessen Rückbank wir Aomame erstmals begegnen. Das Werk zieht sich als magische Tonspur durch den lang erwarteten Großroman "IQ84" von Haruki Murakami.

Wie üblich verrücken sich bei dem japanischen Erfolgsautor die Realitäten. Seine Heldin Aomame braucht nur eine Notfalltreppe von einer Autobahnbrücke hinunterzuklettern, und schon landet sie in einem Paralleluniversum mit Namen "IQ84", in dem es zwei Monde gibt und auch sonst einiges anders läuft. Schuld daran tragen die Little People, ein paar garstige Wesen, die Fäden aus der Luft ziehen und sich in Kokons spinnen, in denen dann ein Doppelgänger heranwächst. Betreten haben sie die ursprüngliche Welt durch das Maul einer blinden Ziege. Dabei hatte der Taxifahrer Aomame noch mit dem Hinweis vorgewarnt, dass "die Dinge meist nicht das sind, was sie zu sein scheinen". Abwechselnd beobachtet der Roman Aomame, die schöne, eisige Auftragsmörderin, die im Auftrag einer alten Dame Vergewaltiger tötet - und den jungen Tengo, einen Aushilfslehrer für Mathematik mit schriftstellerischen Ambitionen.

Als Tengo das Literaturdebüt einer Sektenführertochter umschreibt und der Roman tatsächlich zum preisgekrönten Bestseller avanciert, nimmt sein Leben eine bedrohliche Wendung. Schon auf den ersten Seiten beschleicht den Leser eine dunkle Vorahnung der Ereignisse. Sie wird sich zu einem Unbehagen verdichten, das der Lektüre von Orwells Totalitarismusvision "1984" nahekommt. Nur dass Orwell in die Zukunft schaute, während Murakami den Blick in die jüngere Vergangenheit richtet. Er erzählt wie immer karg und meisterhaft von der Bedrohung durch Gleichschaltung und Indoktrinierung. Von fehlgeleitetem Idealismus. Und von zwei Menschen, die mittendrin versuchen, ihre eigene Utopie der Liebe zu verfolgen. Murakamis Helden, deren Geschichte er raffiniert verschachtelt vorantreibt, führen auch diesmal ein modernes Leben im von Konventionen beherrschten Japan. Sie sind gut ausgebildet, haben hehre Ziele und bleiben doch verloren innerhalb der Gesellschaft. Zwei unendlich einsame, bindungsunfähige, schwer erschöpfte Melancholiker. Gerade mal 30 Jahre alt und eigentlich schon am Ende. Waisenkinder, beide. Von ihren Beschützern verraten. "Ich bin wie ein Mensch, den man ganz allein in einer Nacht auf dem Ozean ausgesetzt hat", sagt Tengo.

Aomame ist Tochter zweier Sektenanhänger und die gefährliche Murakami-Geliebte par excellence. Einst war sie einer Frau in intensiver Freundschaft zugetan, die - natürlich wegen eines Mistkerls - freiwillig aus dem Leben schied. Seither hebt Aomame ihr Herz auf für Tengo, einen Mitschüler aus Grundschultagen. Sie teilten sich einen Moment der reinen Liebe, er half ihr in einer kritischen Situation. Tengo wiederum trifft sich einmal pro Woche zur kalkulierten Triebabfuhr mit einer älteren, verheirateten Frau. Und auch er träumt heimlich von Aomame.

Natürlich stellt der Autor die Frage, ob man Vergewaltiger ins Jenseits befördern darf. Gleichzeitig argumentiert er für die Rächerin, bewirbt ihren Kampf gegen das Böse. Und man ist einigermaßen gerührt, als man erfährt, dass sie sich mit Mühen von einem Gummibaum trennt. "Es war das erste Mal, dass sie etwas Lebendiges hatte."

Der Individualismus in einer von Konvention geprägten Gesellschaft ist das große Thema Haruki Murakamis. Vor zehn Jahren verfasste er das Sachbuch "Untergrundkrieg" über die Aum-Shinrikyo-Sekte, die 1995 einen Giftgasanschlag auf die Tokioter Metro verübte, dem 13 Menschen zum Opfer fielen. In "IQ84" klingt eine Faszination für die besonderen intellektuellen Fähigkeiten und die Auserwähltheit des Anführers heraus. Aber nur so lange, wie dieser sich den dunklen Mächten widersetzt und seine Aktionen gegen seine Gefolgsleute richtet.

Mit großer Suggestivkraft zieht uns Murakami in seinen Kosmos des Unheimlichen. Lässt seine Helden orientierungslos durch eine emotionale Mondlandschaft straucheln. Jedes Kapitel, ja das ganze Buch schraubt sich meisterhaft bis zum Cliffhanger hoch. Selten war die Freude über die Aussicht so groß, dass der Autor den hier vereinten Teilen eins und zwei einen dritten hinzufügen wird.

Bis dahin lässt es sich aufs Schönste schweben. In der Zwischenwelt. Und mit Janáèek.