Andreas Maiers Roman “Das Zimmer“ ist eine Liebeserklärung an die hessische Provinz, er wird zu den Büchern des Jahres gezählt.

Es ist leicht gesagt: Der Ort Soundso wird Literatur in diesem oder jenem Roman; nehmen wir zum Beispiel New York. Die Stadt der Städte, das ist sie doch für viele, wird in "Manhattan Transfer" (dos Passos) oder Johnsons "Jahrestage" besungen. Sie bekommt ein Denkmal zwischen zwei Buchdeckeln. Man möchte manchmal nach New York ziehen, wenn man sich diese Stadt erliest; und dann würde man sich auch mit New Jersey begnügen und dem Blick über den Hudson auf die Skyline. Weil Tony Soprano ja auch ganz gut zurechtkommt in der schmucklosen Nachbarschaft der Riesenmetropole, und weil Bruce Springsteen vom "Jersey Girl" singt und auch sonst seine Herkunft ins Werk gekerbt hat, als gelte es, etwas unwiderruflich zu markieren.

Mit New Jersey kommen wir, im übertragenen Sinn, der hessischen Wetterau näher, das ist tiefste und miefigste Provinz. Die Orte dort heißen Friedberg und Bad Nauheim, die Flüsse Usa oder Nidda. Zum Arbeiten und Amüsement fährt man nach Frankfurt, zum Wandern in den Taunus. In der Regionalbahn aus Frankfurt fällt der Blick auf Ockstadt und Rosbach, über Felder: Man fragt sich, ob die Kirschen schon reif sind, und ob die Ockstädter die rot leuchtenden Äpfel schon heruntergeschüttelt haben. Es gibt nicht viele Geschäfte, ein paar Kneipen, in Bad Nauheim immerhin Touristen, des Heilbads wegen. Auf dem Winterstein gibt es eine Wirtschaft; dort treffen sich die Jäger, und wenn man dort hinfährt, kann es passieren, dass die Panzer der Amis einem entgegenrollen. Wir befinden uns nämlich im Jahr 1969.

Das ist nicht nur das Jahr der ersten Mondlandung, sondern auch das Jahr, in das uns der Frankfurter Schriftsteller Andreas Maier, er zählt zu den talentiertesten des Landes, entführt, um die Geschichte von Onkel J. zu erzählen.

Die ist gleichzeitig die Geschichte der eigenen Herkunft, Maier wurde 1967 in Bad Nauheim geboren, und auf gewisse Weise neidet man die Wetterauer nun darum, dass sie in Maier ihren Geschichtsschreiber gefunden haben. Nicht dass man wirklich dort leben wollte, schließlich kennt man Wetterau in der Tat nur von der gleichnamigen Raststätte an der A 5. Die Umgehungsstraße ist Ende der Sechzigerjahre noch nicht gebaut, und auch die Zubringer zur neuen Autobahn haben noch längst nicht jeden Landkreis an die große, weite Welt angebunden. Die Wetterau ist weit entfernt von der großen, weiten Welt, aber das ist nicht der Grund, warum dort, die Filterzigarette brennt in ihrer Blüte, immerzu geraucht und sogar während der Arbeitszeit getrunken wird, als wäre Bier Wasser.

Es ist schlicht die Zeit, sie ist lange vergangen. Damals wurde nicht viel Wert auf einen gesunden Lebenswandel gelegt, und das Beispiel, anhand dessen Maier uns das vorführt, ist gut gewählt: Es ist besagter Onkel J., der trinkt und raucht, vor allem aber in seinem "nazibraunen" VW-Variant Typ 3 durch die Gegend fährt. Onkel J. ist das, was man in späteren Jahren einen Loser nennt. Sie haben ihn mit einer Zange auf die Welt holen müssen, und deswegen ist Onkel J., der Luis-Trenker-Filme mag, die Jäger und das Frankfurter Rotlichtmilieu, ein bisschen unbedarft.

Dieser Mensch wird von Maier in all seiner Einsamkeit, Seltsamkeit und Einmaligkeit geschildert, die Figur des intellektuell zu kurz gekommenen Mannes verschmilzt mit dem Porträt des Landstrichs. Es ist nicht nur der trockene und nie gemeine, sondern sich ins Unvermeidliche fügende Humor, der diese herausragende Erinnerungsprosa aus der Masse der Veröffentlichungen hervorhebt.

Nein, es ist vor allem die Genauigkeit der Darstellung, die bei aller Ironie nie am Kern der Sache vorbeizielt: dass es sich lohnt zu leben, und sei es im Hinterland des Fortschritts, wo die geilen alten Böcke jungen Mädchen noch an den Busen grapschen, die Aneinanderreihung von fünf (!) Autos an einer Dorfampel noch ein außergewöhnliches Ereignis ist und die Männer "Kallheinz" heißen und nicht Karlheinz.

Andreas Maier wurde bereits mit einigen Literaturpreisen ausgezeichnet, die Familiensaga der Bolls, zu denen Onkel J. zählt, könnte sein Opus magnum werden. Das Buch über den Onkel soll das erste einer ganzen Serie sein, es ist auch ein Nachdenken über die Zeit und ihr Vergehen. Denn manchmal kann man in der Provinz alles sehen: Wie "die Gegenwart Vergangenheit wurde und sich nicht die Zukunft einstellte, die alle erhofft hatten".

Ein liebevolleres Porträt über einen skurrilen Vogel kann man sich nicht vorstellen; seine Wahrnehmung verläuft in anderen Koordinaten als die der Normalsterblichen: Er liebt den Wald. "Mein Onkel sah dort im Wald immer etwas, wo andere nichts sehen. Dagegen sah er unter den Menschen nie etwas, das sahen immer nur die anderen." Maier begleitet J. durch seinen belanglosen Alltag; und er beschreibt, wie den (wirklich tumben?) Beobachtungen des Onkels ein Neigungsgrad des Blickwinkels eignet, der den Wert des Lebens unsentimental aufblendet.

Die Masche des Onkels ist es, seine Wahrnehmungen immer im Superlativ wiederzugeben. So lebt er, in der Provinz Wetterau, das schönste aller Leben.