Bei der Nokia Night of the Proms ließen sich in der O2 World fast 20.000 Leute von Seichtklassik und Mainstream-Pop begeistern.

Hamburg. Menschen, die an ihrem Badezimmerspiegel Post-Its mit Aufschriften wie "Ich bin schön" oder "Heute ist ein wunderbarer Tag" kleben haben, würden die Nokia Night of the Proms sofort verteidigen. Ist doch toll, dass sich zwei Abende lang in Hamburg fast 20 000 Leute aufmachen, um Live-Musik zu hören, statt zu Hause vorm Fernseher Chips zu futtern! Mit dem massenhaften Kauf ihrer Eintrittskarte halten sie 200 Leute in Lohn und Brot, vom Bühnenarbeiter über den Soundmann und die Busfahrer, Orchestermusiker und den Chor bis zum Dirigenten. Die Zuschauer geben Stars von vorvorgestern das Gefühl, noch gebraucht zu werden. Und sie ebnen jungen, noch unbekannten Musikern den Weg auf die größten Bühnen der Republik.

Menschen, denen das Talent zu positivem Denken und zur Affirmation fehlt, wären weniger gnädig. Man fasst es nicht, würden sie stöhnen, mit welchem musikalischen Dünnpfiff sich die Leute zu Tausenden bei Laune halten lassen. Der kleinste gemeinsame Nenner müsse nur laut genug sein, es müsse nur ordentlich blinken und funkeln, würden sie sagen, dann fangen die Augen und Ohren der Leute im Saal zu leuchten an. Boy George! Cliff Richard! Kid Creole! Lauter Pop-Schabracken vor dem Herrn! Und dann dieser Pseudo-Klassik-Seich! Und hat sich Charlie Siem, der niedliche Neo-Paganini aus England, durch seine Teilnahme an dieser Show nicht alle Chancen auf eine vernünftige Konzertkarriere verbaut?

Die Nokia Night of The Proms macht ihrem Publikum unbestreitbar Freude. Dass sie dies mit jeder Menge grausliger Musik tut, ist leider ebenso wahr. Das elektrisch verstärkte Orchester Il Novecento spielt routiniert unter seinem noch viel routinierteren Dirigenten Robert Groslot, dazu gibt's eine Band und den passagenweise mehr zum Schunkeln als zum Singen bestellten Chor Fine Fleur. Ein Konzertgitarrist macht auf Hispano-Django, sein Kollege an der E-Gitarre kupfert gekonnt bei Hendrix ab.

Drei Stunden lang türmte sich am Sonnabend in der O2 World feistester Klassik-Mainstream ("Hochzeitsmarsch", "An der schönen blauen Donau" usw.) auf bräsigen Orchester-Pop und einige sehr achtbare Nummern. Die unterirdische Eso-Pomp-Kapelle Lichtmond bot melodisch armselig vertonte Kitschgedichte auf, die mit einer Fantasyfilm-Projektion zu einem Gesamtkunstwerk verschmelzen sollten. Wer gedacht hatte, tiefer als mit dem "Rilke-Projekt" könne der deutsche Pop nicht sinken, erlebte neue Rekorde auf der nach unten offenen Fremdschäm-Skala.

Boy George singt inzwischen wie eine Ähre, aus der alles Korn gedroschen ist, doch hatte gerade dies Hülsenhafte etwas Berührendes. Hier stand immerhin ein Mensch, aus dessen bunt überschminktem Gesicht eine vom Leben und eigenen Dummheiten ziemlich geprügelte Stehaufmännchenseele herausschaute.

Cliff Richard, 70, präsentierte sich als ein Wunder an Altersvirilität: Die Stimme ist nach wie vor fabelhaft, auch in der Höhe voller Kraft und sicher. Zwei Heavy-Swing-Nummern seines neuen Albums gelangen ihm genauso gut wie alte Hits ("The Young Ones", "We Don't Talk Anymore").

Kid Creole, 60, in seinen übergroßen Hosen eine Art ewiger Cab-Calloway-Imitator, konnte mit Krachern der Frühachtziger wie "Stool Pigeon" und "Annie, I'm Not Your Daddy" nicht mehr an die alten Zeiten anknüpfen. Lärm statt Charme, und seine drei Coconuts waren statt lustig und sexy einfach nur noch porno. John Miles, Stecken und Stab der Veranstaltung seit ihren Anfängen, riss als ehrliche Haut und guter Musiker den Abend aus manchem Seichtgebiet.

Der langjährige Handy-Sponsor geht übrigens nach der Tournee von Bord. Die Nights of the Proms aber pflügen weiter durch die Untiefen der Stadionsalonmusik In Hamburg wieder am 25./26. November 2011.