Der Konzertbesuch als Pop-Retourkutsche - das ist nicht nur bei den Nokia Nights Of The Proms in der O2 World (k)ein Erfolgsgeheimnis.

Früher war alles besser, und ganz besonders natürlich der eigene Musikgeschmack. Für den Rest der Welt grenzen solche steilen Einschätzungen mitunter an Paranoia, wobei dann auch fröhlich ignoriert wird, dass der Ursprung des Worts "Fan" mit der nicht immer unproblematischen Gemütseinstellung "fanatisch" zu tun hat.

Ein weiteres Problem beim Musikkonsum, das mit den Jahren so sicher kommt wie die schmerzhafte Erfahrung, dass Hosengürtel heimlich schrumpfen können und die Badezimmerwaage in Tateinheit mit dem Spiegel einen von Tag zu Tag mehr belügt: Je älter man als Fan wird, desto egaler wird einem das, was die Erinnerungs-Festplatte mit akuter Musik beschwert. Klingt wie ... Erinnert mich an ... Kenn ich irgendwoher schon ... Ist aber nicht so geil wie ... Najaaa, ganz nett, aber mal ehrlich, ab dem zweiten Album gings steil bergab mit ... An die erste selbst gekaufte Platte erinnert sich jeder. Aber an die letzte? Na bitte.

Heute ist der kalte Download die Maßeinheit des Schwärmens. Bits und Bytes. Ein oder aus. Digital statt analog. Flotter Mausklick statt weltverlorenem Regalstöbern. Wer von den vielen jungen, weiß verkabelten Dingern mit ihren iPod-Playlists weiß heute schon noch, wie frisch aus der Zellophanhülle gewurstelte LPs rochen, die man so behutsam nach Hause trug wie Schliemann den Schatz von Troja? Oder was für eine Drecksarbeit es war, einen Kassetten-Bandsalat wieder zu beheben, ohne einen Tobsuchtsanfall zu bekommen. Oder wie wichtig es war, beim Aufnehmen solcher Botschaften ganz genau auf die Dramaturgie zu achten.

Wir tief im letzten Jahrtausend mit Musik Sozialisierten könnten inzwischen genauso gut von brüchigen Tonscheiben reden oder von stumpf gewordenen Keilschrift-Werkzeugen. Wir sind nicht von gestern. In Popularmusik-Zeiteinheiten gerechnet sind wir vom vorletzen Monat.

Nostalgiesausen wie die "Nokia Night of the Proms" mit ihren Jahrhunderten an welkfleischgewordener Pop-Geschichte auf einem Programmzetttel haben daher immer auch etwas Tröstliches. Sie sind eigentlich so etwas wie kollektive Therapiesitzungen, bei denen sich alle im Saal unausgesprochen einig sind, dass Altern immer etwas ist, was vor allem den anderen widerfährt.

Wer sich an die 60er-Jahre erinnern kann, hat sie nicht erlebt, heißt es gern. Wer sich an ABBA-Singles erinnern kann, ohne auch mit kaltem Grausen an die bunten Halstücher zu denken, die damals auf dem Schulhof als todschick galten, der hat etwas Entscheidendes verpasst in seinem Leben: Guter Geschmack kann auch mal einsam machen.

Marcel Proust genügte schon ein kleines Gebäck zum Tee, um seinem Romanhelden in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" kiloweise gedruckte Lebenserinnerungen aus dem Unterbewusstsein hervorsprudeln zu lassen. Eine Madeleine nur, und ab ging die Retro-Post. Die Vorstellung, dass in Ehren verbürgerlichte Besucher mit Tee und Madeleine zu ihren Plätzen flanieren, hat etwas sympathisch Durchgeknalltes. Dem späten David Bowie oder dem gereiften Bryan Ferry wäre diese Geste zuzutrauen, mit delikatessgefülltem Picknickkorb und im maßgeschneiderten Dreiteiler, rahmengenähte Budapester an den Füßen, elfengleiche slawische Modelgrazien am Arm.

Unsereins sieht ganz profan auf den Besetzungszettel des Konzerts, entdeckt Pop-Antiquitäten wie Boy George oder Cliff Richard, kann sich kaum entscheiden, wer älter aussieht. Und zieht die Erinnerung der Wirklichkeit vor. Da weiß man, was man hat. Da kann man nicht enttäuscht werden. Niemals.

Nokia Nights of the Proms Sa 4.12., 20.00/So 5.12., 18.00, O2-World (S Stellingen + Bus 380), Sylvesterallee 10, Karten ab 47,80 in allen Abendblatt-Ticketshops und unter T. 30 30 98 98