“Allein Allein“, sang Polarkreis 18 vor zwei Jahren. Nun ist eine der erstaunlichsten Bands des Landes zurück - mit ihrem Album “Frei“.

Es ist Ende Oktober in einem alten Theatersaal in Berlin-Neukölln. Die Band Polarkreis 18 stellt ihr neues Album vor. Das Publikum sitzt. Zwischen den Tischen streifen Menschen mit Bauarbeiterhelmen umher, sie tragen große durchsichtige Kugeln auf dem Kopf auf die Bühne, bedächtig, in abgesprochenen Bewegungen. Gleißendes Licht, ein Chor mit weißen Gesichtern. Steinerne Blicke.

"Man muss die Grenzen der Welt verlassen, um die wichtigsten seiner Fragen zu beantworten", sagt Polarkreis-Sänger Felix Räuber später und blickt auf das Tablett voller Käsebrötchen vor sich. "Und dann zurückkehren und feststellen, dass man überhaupt keine Antworten gefunden hat. Aber wir kommen nie zurück, wir gehen immer nur weiter."

Für Polarkreis 18 ist es in den letzten Jahren schon ziemlich weit vorangegangen. Als Schülerband hatte die Musiker 1998 begonnen, 2006 gewannen sie zwei Musikwettbewerbe und bekamen einen Plattenvertrag. 2007 erschien ihr erstes Album, 2008 gelang der große Durchbruch: mit ihrer Single "Allein Allein" standen sie fünf Wochen auf Platz eins der deutschen Charts.

Auf der Bühne gilt alle Aufmerksamkeit dem Sänger. Mal steht er mit ausgebreiteten Armen da, dann hockt er mit gesenktem Kopf am Boden, mal hat er den Ausdruck eines Musicalsängers, der mit weiten Augen ins Irgendwo blickt, dann wieder zeigt er das fallen gelassene Lächeln einer Chanson-Diva und schüttelt in dirigentenhafter Wildgewordenheit den blonden Kopf. Der halbe Schritt zurück, mit schräg gelegtem Kopf, die Denkerpose der Popmusik. Auch die merkelsche Rauten-Handhaltung führt er vor. Alles folgt einer Dramaturgie, wie sie sagen. Beim Lied "Frei" vom neuen gleichnamigen Album, singt ein Chor in Zwangsjacken, im Laufe des Konzerts werden sich die Bandmitglieder noch weiße Masken aufsetzen. Dann lassen sie sich zu Boden fallen, setzen ihre Astronautenhelme auf und treten ab.

"Klar haben wir einen Hang zum Pathos, aber Kitsch ist das nicht", sagt Räuber. Es habe sich schon früh abgezeichnet, dass sie die emotionale Essenz, die für sie die Basis bildete, Musik zu machen, auch auf anderer Ebene transportieren wollten. Und die weißen Masken? "In erster Linie wollen wir damit eine Bühnenfigur entwerfen. Sah eben cool aus."

Auf ihrem heute erscheinenden Album "Frei" singt Polarkreis 18 in dramatisch hohen Tönen, die gesamte Band, übrigens alle so Mitte 20, tritt in weißer Kleidung auf, sie nennen ihr Studio "Band-Biotop" oder "Kreativ-Zelle". Mit dem MDR Sinfonie Orchester haben sie zum 20. Wende-Jubiläum unter dem Titel "Kinder der Freiheit" zusammen musiziert. Sie wurden mit Modern Talking verglichen. Es ist einfach, sich über diese Band lustig zu machen. Doch es empfiehlt sich, die eigenen Distinktions-Zwänge zu überwinden. Denn Polarkreis 18 ist die erstaunlichste Band des Landes. Wirklich.

Die Bühnenfiguren wirken wie eine Mischung aus Oper und Schulaufführung. Die Musik scheint alles zu imitieren und klingt dennoch erstaunlich einzigartig. Eine musikalische Ähnlichkeit zu Schuberts Winterreise erkennt man nicht gleich beim ersten Hören der Synthie-Pop-Platte, die am ehesten vielleicht an Bands wie a-ha oder Muse erinnert. Man kann diese Band nicht in eine Schublade stecken, so gerne man auch möchte, das wissen sie. "Innerhalb des Polarkreis-Kosmos ist der Begriff des Paradoxen immer wieder zu finden. Wir wollen groß und bombastisch sein. Das ist man aber nur, wenn man auch klein sein kann", sagt der Sänger.

Nach dem Konzert in Neukölln überreicht man Polarkreis 18 im kargen zweiten Stock des Theaters noch eine Goldene Schallplatte für ihr Album "The Colour of Snow". Der Mann vom Label sagt, Polarkreis 18 sei die avantgardistischste Band Deutschlands. Felix Räuber sagt: "Mit uns ist es etwa wie mit dem Film Matrix. Der hat eine gewisse Oberfläche, etwas Griffiges und Eingängiges, und er hat auch noch eine tiefere Ebene. Genauso wie unsere Kostüme, die ja eigentlich nur eine Hülle sind, aber dennoch für die tieferen Ebenen wichtig, die wir immer versuchen einzubauen." Polarkreis 18 setzt weiße Masken auf und hat vergessen, warum. Wie angenehm. Denn es ist die Hülle, die ihre Leere erträglich macht.